den Fluren um die Stadt, die Ufer des Ismenus entlang und um die von Alters berühmte Quelle Dirce her, war das mächtige Feindesheer gelagert. Es hatte sich eben in Bewegung gesetzt und Truppenschaar sonderte sich von Truppenschaar. Das ganze Gefilde schimmerte von Erz¬ glanz wie ein wogendes Meer. Massen von Fußvolk und Reiterei schwärmten brausend um die Thore der be¬ lagerten Stadt. Die Jungfrau erschrack bei diesem An¬ blicke; der Greis jedoch sprach ihr Trost ein: "Unsere Mauern sind hoch und fest, unsere Eichenthore liegen in schweren eisernen Riegeln. Von innen bietet die Stadt alle Sicherheit, und ist voll muthiger, den Kampf nicht scheuender Krieger." Darauf fing er an, die Fragen des Mädchens nach einzelnen hervorragenden Führern zu beantworten: "Der dort im leuchtenden Helme, der, seinen blanken Erzschild mit Leichtigkeit schwingend, einer Heer¬ schaar voranzieht, das ist der Fürst Hippomedon, der um das Gewässer Lerna's in Mycene wohnt, hoch ragt sein Wuchs empor, wie eines erdentsprossenen Giganten! -- Weiter rechts dort, der am Dircequell wandelt, in frem¬ der Waffentracht, wie ein Halbbarbar, das ist deines Bruders Schwager, Tydeus, des Oeneus Sohn; er und seine Aetolier sind Schildträger und die besten Lan¬ zenwerfer: ich kenne ihn an seinem Wappenschilde; denn ich bin schon als Unterhändler in das feindliche Lager abgeschickt worden." -- "Wer ist denn," fragte jetzt das Mägdlein, "der jugendliche Held dort, im unjugendli¬ chen Haare, der mit wildem Blicke an jenem Helden- Grabmal vorüberschreitet, und dem völlig gerüstetes Volk langsam nachfolgt?" -- "Das Parthenopäus," be¬ lehrte sie der Alte, "der Sohn Atalante's, der Freundin
den Fluren um die Stadt, die Ufer des Iſmenus entlang und um die von Alters berühmte Quelle Dirce her, war das mächtige Feindesheer gelagert. Es hatte ſich eben in Bewegung geſetzt und Truppenſchaar ſonderte ſich von Truppenſchaar. Das ganze Gefilde ſchimmerte von Erz¬ glanz wie ein wogendes Meer. Maſſen von Fußvolk und Reiterei ſchwärmten brauſend um die Thore der be¬ lagerten Stadt. Die Jungfrau erſchrack bei dieſem An¬ blicke; der Greis jedoch ſprach ihr Troſt ein: „Unſere Mauern ſind hoch und feſt, unſere Eichenthore liegen in ſchweren eiſernen Riegeln. Von innen bietet die Stadt alle Sicherheit, und iſt voll muthiger, den Kampf nicht ſcheuender Krieger.“ Darauf fing er an, die Fragen des Mädchens nach einzelnen hervorragenden Führern zu beantworten: „Der dort im leuchtenden Helme, der, ſeinen blanken Erzſchild mit Leichtigkeit ſchwingend, einer Heer¬ ſchaar voranzieht, das iſt der Fürſt Hippomedon, der um das Gewäſſer Lerna's in Mycene wohnt, hoch ragt ſein Wuchs empor, wie eines erdentſproſſenen Giganten! — Weiter rechts dort, der am Dircequell wandelt, in frem¬ der Waffentracht, wie ein Halbbarbar, das iſt deines Bruders Schwager, Tydeus, des Oeneus Sohn; er und ſeine Aetolier ſind Schildträger und die beſten Lan¬ zenwerfer: ich kenne ihn an ſeinem Wappenſchilde; denn ich bin ſchon als Unterhändler in das feindliche Lager abgeſchickt worden.“ — „Wer iſt denn,“ fragte jetzt das Mägdlein, „der jugendliche Held dort, im unjugendli¬ chen Haare, der mit wildem Blicke an jenem Helden- Grabmal vorüberſchreitet, und dem völlig gerüſtetes Volk langſam nachfolgt?“ — „Das Parthenopäus,“ be¬ lehrte ſie der Alte, „der Sohn Atalante's, der Freundin
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den Fluren um die Stadt, die Ufer des Iſmenus entlang
und um die von Alters berühmte Quelle Dirce her, war
das mächtige Feindesheer gelagert. Es hatte ſich eben in
Bewegung geſetzt und Truppenſchaar ſonderte ſich von
Truppenſchaar. Das ganze Gefilde ſchimmerte von Erz¬
glanz wie ein wogendes Meer. Maſſen von Fußvolk
und Reiterei ſchwärmten brauſend um die Thore der be¬
lagerten Stadt. Die Jungfrau erſchrack bei dieſem An¬
blicke; der Greis jedoch ſprach ihr Troſt ein: „Unſere
Mauern ſind hoch und feſt, unſere Eichenthore liegen in
ſchweren eiſernen Riegeln. Von innen bietet die Stadt
alle Sicherheit, und iſt voll muthiger, den Kampf nicht
ſcheuender Krieger.“ Darauf fing er an, die Fragen
des Mädchens nach einzelnen hervorragenden Führern zu
beantworten: „Der dort im leuchtenden Helme, der, ſeinen
blanken Erzſchild mit Leichtigkeit ſchwingend, einer Heer¬
ſchaar voranzieht, das iſt der Fürſt Hippomedon, der um
das Gewäſſer Lerna's in Mycene wohnt, hoch ragt ſein
Wuchs empor, wie eines erdentſproſſenen Giganten! —
Weiter rechts dort, der am Dircequell wandelt, in frem¬
der Waffentracht, wie ein Halbbarbar, das iſt deines
Bruders Schwager, Tydeus, des Oeneus Sohn; er und
ſeine Aetolier ſind Schildträger und die beſten Lan¬
zenwerfer: ich kenne ihn an ſeinem Wappenſchilde; denn
ich bin ſchon als Unterhändler in das feindliche Lager
abgeſchickt worden.“ — „Wer iſt denn,“ fragte jetzt das
Mägdlein, „der jugendliche Held dort, im unjugendli¬
chen Haare, der mit wildem Blicke an jenem Helden-
Grabmal vorüberſchreitet, und dem völlig gerüſtetes Volk
langſam nachfolgt?“ — „Das Parthenopäus,“ be¬
lehrte ſie der Alte, „der Sohn Atalante's, der Freundin
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/380>, abgerufen am 24.11.2024.
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