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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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so fliehe er, so weit er kann, hinweg von meinem Göt¬
terspruch!" sagte der Greis. "Warum das?" fragte Kreon.
"Menökeus ist seines Vaters Kind, er kann schweigen,
wenn er soll, und wird sich freuen, wenn er das Mittel
erfährt, das uns retten soll!" -- "So vernehmet denn,
was ich aus dem Fluge der Vögel gelesen habe," sprach
Tiresias. "Es kommt das Heil, aber über harte Schwelle.
Der Jüngste von der Drachenzähnesaat muß fallen; nur
unter dieser Bedingung wird Euch der Sieg!" -- "Weh
mir," rief Kreon, "was bedeutet dieses Wort, o Greis?"
-- "Daß der jüngste Enkel des Kadmus sterben soll,
wenn die Stadt gerettet seyn will!" -- "Du verlangst den
Tod meines geliebtesten Kindes, meines Sohnes Menö¬
keus?" so fuhr der Fürst entrüstet auf. "Packe dich fort
in die Stadt! Ich bedarf deines Seherspruches nicht!"
-- "Ist die Wahrheit ungültig, weil sie dir Leid bringt?"
fragte Tiresias ernst. Jetzt warf sich Kreon ihm zu Fü¬
ßen, umfaßte seine Knie, flehte den blinden Propheten
bei seinem grauen Haare an, den Spruch zurückzuneh¬
men. Aber der Seher blieb unerbittlich: "Die Forderung
ist unabwendbar," sprach er. "Am Dirce-Quell, wo einst
der Lindwurm gelagert war, muß er sein Blut im Op¬
fertode vergießen; dann werdet ihr die Erde zur Freund¬
in haben, wenn sie für das Menschenblut, das sie einst
dem Kadmus aus den Drachenzähnen emporsandte, wie¬
der Menschenblut, und zwar verwandtes, empfangen hat.
Wenn dieser Jüngling hier sich für seine Stadt aufop¬
fert, so wird er im Tode ihr Erretter seyn und für
Adrastus und sein Heer wird die Heimkehr grauen¬
voll werden! Wähle dir nun, Kreon, welches Loos von
zweien du willst."

ſo fliehe er, ſo weit er kann, hinweg von meinem Göt¬
terſpruch!“ ſagte der Greis. „Warum das?“ fragte Kreon.
„Menökeus iſt ſeines Vaters Kind, er kann ſchweigen,
wenn er ſoll, und wird ſich freuen, wenn er das Mittel
erfährt, das uns retten ſoll!“ — „So vernehmet denn,
was ich aus dem Fluge der Vögel geleſen habe,“ ſprach
Tireſias. „Es kommt das Heil, aber über harte Schwelle.
Der Jüngſte von der Drachenzähneſaat muß fallen; nur
unter dieſer Bedingung wird Euch der Sieg!“ — „Weh
mir,“ rief Kreon, „was bedeutet dieſes Wort, o Greis?“
— „Daß der jüngſte Enkel des Kadmus ſterben ſoll,
wenn die Stadt gerettet ſeyn will!“ — „Du verlangſt den
Tod meines geliebteſten Kindes, meines Sohnes Menö¬
keus?“ ſo fuhr der Fürſt entrüſtet auf. „Packe dich fort
in die Stadt! Ich bedarf deines Seherſpruches nicht!“
— „Iſt die Wahrheit ungültig, weil ſie dir Leid bringt?“
fragte Tireſias ernſt. Jetzt warf ſich Kreon ihm zu Fü¬
ßen, umfaßte ſeine Knie, flehte den blinden Propheten
bei ſeinem grauen Haare an, den Spruch zurückzuneh¬
men. Aber der Seher blieb unerbittlich: „Die Forderung
iſt unabwendbar,“ ſprach er. „Am Dirce-Quell, wo einſt
der Lindwurm gelagert war, muß er ſein Blut im Op¬
fertode vergießen; dann werdet ihr die Erde zur Freund¬
in haben, wenn ſie für das Menſchenblut, das ſie einſt
dem Kadmus aus den Drachenzähnen emporſandte, wie¬
der Menſchenblut, und zwar verwandtes, empfangen hat.
Wenn dieſer Jüngling hier ſich für ſeine Stadt aufop¬
fert, ſo wird er im Tode ihr Erretter ſeyn und für
Adraſtus und ſein Heer wird die Heimkehr grauen¬
voll werden! Wähle dir nun, Kreon, welches Loos von
zweien du willſt.“

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[357/0383] ſo fliehe er, ſo weit er kann, hinweg von meinem Göt¬ terſpruch!“ ſagte der Greis. „Warum das?“ fragte Kreon. „Menökeus iſt ſeines Vaters Kind, er kann ſchweigen, wenn er ſoll, und wird ſich freuen, wenn er das Mittel erfährt, das uns retten ſoll!“ — „So vernehmet denn, was ich aus dem Fluge der Vögel geleſen habe,“ ſprach Tireſias. „Es kommt das Heil, aber über harte Schwelle. Der Jüngſte von der Drachenzähneſaat muß fallen; nur unter dieſer Bedingung wird Euch der Sieg!“ — „Weh mir,“ rief Kreon, „was bedeutet dieſes Wort, o Greis?“ — „Daß der jüngſte Enkel des Kadmus ſterben ſoll, wenn die Stadt gerettet ſeyn will!“ — „Du verlangſt den Tod meines geliebteſten Kindes, meines Sohnes Menö¬ keus?“ ſo fuhr der Fürſt entrüſtet auf. „Packe dich fort in die Stadt! Ich bedarf deines Seherſpruches nicht!“ — „Iſt die Wahrheit ungültig, weil ſie dir Leid bringt?“ fragte Tireſias ernſt. Jetzt warf ſich Kreon ihm zu Fü¬ ßen, umfaßte ſeine Knie, flehte den blinden Propheten bei ſeinem grauen Haare an, den Spruch zurückzuneh¬ men. Aber der Seher blieb unerbittlich: „Die Forderung iſt unabwendbar,“ ſprach er. „Am Dirce-Quell, wo einſt der Lindwurm gelagert war, muß er ſein Blut im Op¬ fertode vergießen; dann werdet ihr die Erde zur Freund¬ in haben, wenn ſie für das Menſchenblut, das ſie einſt dem Kadmus aus den Drachenzähnen emporſandte, wie¬ der Menſchenblut, und zwar verwandtes, empfangen hat. Wenn dieſer Jüngling hier ſich für ſeine Stadt aufop¬ fert, ſo wird er im Tode ihr Erretter ſeyn und für Adraſtus und ſein Heer wird die Heimkehr grauen¬ voll werden! Wähle dir nun, Kreon, welches Loos von zweien du willſt.“

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 357. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/383>, abgerufen am 24.11.2024.