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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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Also sprach der Wahrsager und entfernte sich an
der Hand seiner Tochter. Kreon stand in Schweigen
versunken. Endlich rief er angstvoll: "Wie gerne wollte
ich selbst für mein Vaterland sterben! Aber dich, Kind,
soll ich opfern? Flieh, mein Sohn, fliehe, so weit dich
deine Füße tragen, aus diesem verfluchten Lande, das zu
schlimm ist für deine Unschuld. Geh über Delphi, Ae¬
tolien, Thesprotia zum Heiligthume Dodona's: dort birg
dich in des Orakels Schutz!" -- "Gerne;" sprach Menö¬
keus mit leuchtendem Blicke, "versieh mich mit den nöthi¬
gen Reisebedürfnissen, Vater, und glaube mir, ich werde
den rechten Weg nicht verfehlen." Als sich Kreon bei
der Willigkeit des Knaben beruhigte und auf seinen Po¬
sten geeilt war, warf sich dieser, sobald er allein war,
auf die Erde nieder und betete mit Inbrunst zu den
Göttern: "Verzeihet mir, ihr himmlischen Reinen, wenn ich
gelogen habe, wenn ich meinem alten Vater durch falsche
Worte die unwürdige Furcht benommen! Zwar, daß er,
der Greis, sich fürchtet, ist verzeihlich; aber welch ein
Feiger wäre ich, wenn ich das Vaterland verriethe, dem
ich das Leben verdanke. Höret darum meinen Schwur,
ihr Götter, und nehmet ihn gnädig auf. Ich gehe, mein
Vaterland durch meinen Tod zu erretten. Flucht würde
mich schänden. Auf den Mauernkranz will ich treten,
mich selbst in die tiefe, dunkle Kluft des Drachen
stürzen, und so, wie der Seher angezeigt hat, das Land
erlösen."

Freudig sprang der Knabe auf, eilte nach der Mauer
und that, wie er gesagt hatte. Er stellte sich auf die
höchste Höhe der Burgmauer, überschaute mit Einem
Blicke die Schlachtordnung der Feinde, und verwünschte

Alſo ſprach der Wahrſager und entfernte ſich an
der Hand ſeiner Tochter. Kreon ſtand in Schweigen
verſunken. Endlich rief er angſtvoll: „Wie gerne wollte
ich ſelbſt für mein Vaterland ſterben! Aber dich, Kind,
ſoll ich opfern? Flieh, mein Sohn, fliehe, ſo weit dich
deine Füße tragen, aus dieſem verfluchten Lande, das zu
ſchlimm iſt für deine Unſchuld. Geh über Delphi, Ae¬
tolien, Thesprotia zum Heiligthume Dodona's: dort birg
dich in des Orakels Schutz!“ — „Gerne;“ ſprach Menö¬
keus mit leuchtendem Blicke, „verſieh mich mit den nöthi¬
gen Reiſebedürfniſſen, Vater, und glaube mir, ich werde
den rechten Weg nicht verfehlen.“ Als ſich Kreon bei
der Willigkeit des Knaben beruhigte und auf ſeinen Po¬
ſten geeilt war, warf ſich dieſer, ſobald er allein war,
auf die Erde nieder und betete mit Inbrunſt zu den
Göttern: „Verzeihet mir, ihr himmliſchen Reinen, wenn ich
gelogen habe, wenn ich meinem alten Vater durch falſche
Worte die unwürdige Furcht benommen! Zwar, daß er,
der Greis, ſich fürchtet, iſt verzeihlich; aber welch ein
Feiger wäre ich, wenn ich das Vaterland verriethe, dem
ich das Leben verdanke. Höret darum meinen Schwur,
ihr Götter, und nehmet ihn gnädig auf. Ich gehe, mein
Vaterland durch meinen Tod zu erretten. Flucht würde
mich ſchänden. Auf den Mauernkranz will ich treten,
mich ſelbſt in die tiefe, dunkle Kluft des Drachen
ſtürzen, und ſo, wie der Seher angezeigt hat, das Land
erlöſen.“

Freudig ſprang der Knabe auf, eilte nach der Mauer
und that, wie er geſagt hatte. Er ſtellte ſich auf die
höchſte Höhe der Burgmauer, überſchaute mit Einem
Blicke die Schlachtordnung der Feinde, und verwünſchte

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[358/0384] Alſo ſprach der Wahrſager und entfernte ſich an der Hand ſeiner Tochter. Kreon ſtand in Schweigen verſunken. Endlich rief er angſtvoll: „Wie gerne wollte ich ſelbſt für mein Vaterland ſterben! Aber dich, Kind, ſoll ich opfern? Flieh, mein Sohn, fliehe, ſo weit dich deine Füße tragen, aus dieſem verfluchten Lande, das zu ſchlimm iſt für deine Unſchuld. Geh über Delphi, Ae¬ tolien, Thesprotia zum Heiligthume Dodona's: dort birg dich in des Orakels Schutz!“ — „Gerne;“ ſprach Menö¬ keus mit leuchtendem Blicke, „verſieh mich mit den nöthi¬ gen Reiſebedürfniſſen, Vater, und glaube mir, ich werde den rechten Weg nicht verfehlen.“ Als ſich Kreon bei der Willigkeit des Knaben beruhigte und auf ſeinen Po¬ ſten geeilt war, warf ſich dieſer, ſobald er allein war, auf die Erde nieder und betete mit Inbrunſt zu den Göttern: „Verzeihet mir, ihr himmliſchen Reinen, wenn ich gelogen habe, wenn ich meinem alten Vater durch falſche Worte die unwürdige Furcht benommen! Zwar, daß er, der Greis, ſich fürchtet, iſt verzeihlich; aber welch ein Feiger wäre ich, wenn ich das Vaterland verriethe, dem ich das Leben verdanke. Höret darum meinen Schwur, ihr Götter, und nehmet ihn gnädig auf. Ich gehe, mein Vaterland durch meinen Tod zu erretten. Flucht würde mich ſchänden. Auf den Mauernkranz will ich treten, mich ſelbſt in die tiefe, dunkle Kluft des Drachen ſtürzen, und ſo, wie der Seher angezeigt hat, das Land erlöſen.“ Freudig ſprang der Knabe auf, eilte nach der Mauer und that, wie er geſagt hatte. Er ſtellte ſich auf die höchſte Höhe der Burgmauer, überſchaute mit Einem Blicke die Schlachtordnung der Feinde, und verwünſchte

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 358. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/384>, abgerufen am 24.11.2024.