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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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Tydeus seine Schaaren, der eine struppige Löwenhaut im
Schilde führte und mit wilder Gebärde in der Rechten
eine Brandfackel schwang. Der vertriebene König Poly¬
nices befehligte den Sturm auf das fünfte Thor; sein
Schild stellte ein in Wuth sich bäumendes Rossegespann
vor. Zum sechsten Thore führte seine Kriegerschaar Ka¬
paneus, der sich vermaß, mit dem Gotte Mars in die
Wette streiten zu können: auf dem Eisenrücken seines
Schildes war ein Gigant ausgeprägt, der eine ganze
Stadt, ihrem Grunde enthoben, auf den Schultern
trug, welches Schicksal dieser Schildträger der Stadt
Thebe zugedacht hatte. Zum siebenten und letzten
Thore endlich kam Adrastus, der Argiverkönig, heran¬
gerückt. Auf dem Felde seines Schildes waren hundert
Schlangen abgebildet, welche in ihren Kiefern thebanische
Kinder davontrugen. Als alle nahe genug vor die Thore
gerückt waren, wurde der Kampf zuerst mit Schleudern,
dann mit Bogen und Speeren eröffnet. Aber den ersten
Angriff wehrten die Thebaner siegreich ab, so daß die
Schaaren der Argiver rückwärts gingen. Da riefen Ty¬
deus und Polynices schnell besonnen: "Ihr Brüder, was
brechet ihr nicht, ehe die Geschoße euch niederwerfen, mit
vereinigter Macht auf die Thore ein, Fußvölker, Reiter,
Wagenlenker, alle miteinander?" Dieser Ruf, der sich
schnell durch das Heer verbreitete, belebte den Muth der
Argiver aufs Neue. Alles lebte wieder auf, und der
Sturm begann mit verstärkter Macht, aber nicht glück¬
licher, denn zuvor. Mit blutbespritzten Köpfen sanken
sie zu den Füßen der Vertheidiger nieder, und ganze Li¬
nien röchelten unter den Mauern ihr Leben aus, so daß
der dürre Boden vor der Stadt von Blutbächen floß. --

Tydeus ſeine Schaaren, der eine ſtruppige Löwenhaut im
Schilde führte und mit wilder Gebärde in der Rechten
eine Brandfackel ſchwang. Der vertriebene König Poly¬
nices befehligte den Sturm auf das fünfte Thor; ſein
Schild ſtellte ein in Wuth ſich bäumendes Roſſegeſpann
vor. Zum ſechſten Thore führte ſeine Kriegerſchaar Ka¬
paneus, der ſich vermaß, mit dem Gotte Mars in die
Wette ſtreiten zu können: auf dem Eiſenrücken ſeines
Schildes war ein Gigant ausgeprägt, der eine ganze
Stadt, ihrem Grunde enthoben, auf den Schultern
trug, welches Schickſal dieſer Schildträger der Stadt
Thebe zugedacht hatte. Zum ſiebenten und letzten
Thore endlich kam Adraſtus, der Argiverkönig, heran¬
gerückt. Auf dem Felde ſeines Schildes waren hundert
Schlangen abgebildet, welche in ihren Kiefern thebaniſche
Kinder davontrugen. Als alle nahe genug vor die Thore
gerückt waren, wurde der Kampf zuerſt mit Schleudern,
dann mit Bogen und Speeren eröffnet. Aber den erſten
Angriff wehrten die Thebaner ſiegreich ab, ſo daß die
Schaaren der Argiver rückwärts gingen. Da riefen Ty¬
deus und Polynices ſchnell beſonnen: „Ihr Brüder, was
brechet ihr nicht, ehe die Geſchoße euch niederwerfen, mit
vereinigter Macht auf die Thore ein, Fußvölker, Reiter,
Wagenlenker, alle miteinander?“ Dieſer Ruf, der ſich
ſchnell durch das Heer verbreitete, belebte den Muth der
Argiver aufs Neue. Alles lebte wieder auf, und der
Sturm begann mit verſtärkter Macht, aber nicht glück¬
licher, denn zuvor. Mit blutbeſpritzten Köpfen ſanken
ſie zu den Füßen der Vertheidiger nieder, und ganze Li¬
nien röchelten unter den Mauern ihr Leben aus, ſo daß
der dürre Boden vor der Stadt von Blutbächen floß. —

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[360/0386] Tydeus ſeine Schaaren, der eine ſtruppige Löwenhaut im Schilde führte und mit wilder Gebärde in der Rechten eine Brandfackel ſchwang. Der vertriebene König Poly¬ nices befehligte den Sturm auf das fünfte Thor; ſein Schild ſtellte ein in Wuth ſich bäumendes Roſſegeſpann vor. Zum ſechſten Thore führte ſeine Kriegerſchaar Ka¬ paneus, der ſich vermaß, mit dem Gotte Mars in die Wette ſtreiten zu können: auf dem Eiſenrücken ſeines Schildes war ein Gigant ausgeprägt, der eine ganze Stadt, ihrem Grunde enthoben, auf den Schultern trug, welches Schickſal dieſer Schildträger der Stadt Thebe zugedacht hatte. Zum ſiebenten und letzten Thore endlich kam Adraſtus, der Argiverkönig, heran¬ gerückt. Auf dem Felde ſeines Schildes waren hundert Schlangen abgebildet, welche in ihren Kiefern thebaniſche Kinder davontrugen. Als alle nahe genug vor die Thore gerückt waren, wurde der Kampf zuerſt mit Schleudern, dann mit Bogen und Speeren eröffnet. Aber den erſten Angriff wehrten die Thebaner ſiegreich ab, ſo daß die Schaaren der Argiver rückwärts gingen. Da riefen Ty¬ deus und Polynices ſchnell beſonnen: „Ihr Brüder, was brechet ihr nicht, ehe die Geſchoße euch niederwerfen, mit vereinigter Macht auf die Thore ein, Fußvölker, Reiter, Wagenlenker, alle miteinander?“ Dieſer Ruf, der ſich ſchnell durch das Heer verbreitete, belebte den Muth der Argiver aufs Neue. Alles lebte wieder auf, und der Sturm begann mit verſtärkter Macht, aber nicht glück¬ licher, denn zuvor. Mit blutbeſpritzten Köpfen ſanken ſie zu den Füßen der Vertheidiger nieder, und ganze Li¬ nien röchelten unter den Mauern ihr Leben aus, ſo daß der dürre Boden vor der Stadt von Blutbächen floß. —

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/386>, abgerufen am 24.11.2024.