ziehen. Oeffentlich vor allen Bürgern Thebe's wurde Antigone nach dem gewölbten Grabe abgeführt, das ihrer wartete; sie stieg unter Anrufung der Götter und der Geliebten, mit welchen sie vereinigt zu werden hoffte, unerschrocken hinab.
Noch immer lag der verwesende Leichnam des er¬ schlagenen Polynices unbegraben da. Die Hunde und Vögel nährten sich von ihm, und befleckten die Stadt, indem sie die Ueberreste des Todten hin und her trugen. Da erschien der greise Seher Tiresias vor dem Könige Kreon, wie er einst vor Oedipus erschienen war, und verkündete jenem aus dem Vogelfluge und der Opferschau ein Unheil. Schlimmer, übelgesättigter Vögel Gekrächz hatte er vernommen, das Opferthier auf dem Altare, statt hell in Flammen zu verlodern, war unter trübem Rauche verschmort. "Offenbar zürnen uns die Götter," endete er seinen Bericht, "wegen der Mißhandlung des erschla¬ genen Königssohnes. Sey darum nicht halsstarrig, Herrscher, weiche dem Todten, sieh nicht nach Ermorde¬ ten! Welcher Ruhm ist es, Todte noch einmal zu töd¬ ten? Laß ab davon; in guter Meinung rathe ich dir!" Aber Kreon wies, wie damals Oedipus, den Wahrsa¬ ger mit kränkenden Worten zurück, schalt ihn geldgierig und bezüchtigte ihn der Lüge. Da entbrannte das Ge¬ müth des Sehers, und ohne Schonung zog er von den Augen des Königes den Schleier weg, der die Zukunft bedeckte! "Wisse," sprach er, "daß die Sonne nicht untergehen wird, ehe du aus deinem eigenen Blute einen Leichnam für zwei Leichen zum Ersatze bringst. Doppel¬ ten Frevel begehst du, indem du den Todten der Unter¬ welt vorenthältst, der ihr gebührt, und die Lebende, die
ziehen. Oeffentlich vor allen Bürgern Thebe's wurde Antigone nach dem gewölbten Grabe abgeführt, das ihrer wartete; ſie ſtieg unter Anrufung der Götter und der Geliebten, mit welchen ſie vereinigt zu werden hoffte, unerſchrocken hinab.
Noch immer lag der verweſende Leichnam des er¬ ſchlagenen Polynices unbegraben da. Die Hunde und Vögel nährten ſich von ihm, und befleckten die Stadt, indem ſie die Ueberreſte des Todten hin und her trugen. Da erſchien der greiſe Seher Tireſias vor dem Könige Kreon, wie er einſt vor Oedipus erſchienen war, und verkündete jenem aus dem Vogelfluge und der Opferſchau ein Unheil. Schlimmer, übelgeſättigter Vögel Gekrächz hatte er vernommen, das Opferthier auf dem Altare, ſtatt hell in Flammen zu verlodern, war unter trübem Rauche verſchmort. „Offenbar zürnen uns die Götter,“ endete er ſeinen Bericht, „wegen der Mißhandlung des erſchla¬ genen Königsſohnes. Sey darum nicht halsſtarrig, Herrſcher, weiche dem Todten, ſieh nicht nach Ermorde¬ ten! Welcher Ruhm iſt es, Todte noch einmal zu töd¬ ten? Laß ab davon; in guter Meinung rathe ich dir!“ Aber Kreon wies, wie damals Oedipus, den Wahrſa¬ ger mit kränkenden Worten zurück, ſchalt ihn geldgierig und bezüchtigte ihn der Lüge. Da entbrannte das Ge¬ müth des Sehers, und ohne Schonung zog er von den Augen des Königes den Schleier weg, der die Zukunft bedeckte! „Wiſſe,“ ſprach er, „daß die Sonne nicht untergehen wird, ehe du aus deinem eigenen Blute einen Leichnam für zwei Leichen zum Erſatze bringſt. Doppel¬ ten Frevel begehſt du, indem du den Todten der Unter¬ welt vorenthältſt, der ihr gebührt, und die Lebende, die
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ziehen. Oeffentlich vor allen Bürgern Thebe's wurde
Antigone nach dem gewölbten Grabe abgeführt, das ihrer
wartete; ſie ſtieg unter Anrufung der Götter und der
Geliebten, mit welchen ſie vereinigt zu werden hoffte,
unerſchrocken hinab.
Noch immer lag der verweſende Leichnam des er¬
ſchlagenen Polynices unbegraben da. Die Hunde und
Vögel nährten ſich von ihm, und befleckten die Stadt,
indem ſie die Ueberreſte des Todten hin und her trugen.
Da erſchien der greiſe Seher Tireſias vor dem Könige
Kreon, wie er einſt vor Oedipus erſchienen war, und
verkündete jenem aus dem Vogelfluge und der Opferſchau
ein Unheil. Schlimmer, übelgeſättigter Vögel Gekrächz hatte
er vernommen, das Opferthier auf dem Altare, ſtatt hell
in Flammen zu verlodern, war unter trübem Rauche
verſchmort. „Offenbar zürnen uns die Götter,“ endete
er ſeinen Bericht, „wegen der Mißhandlung des erſchla¬
genen Königsſohnes. Sey darum nicht halsſtarrig,
Herrſcher, weiche dem Todten, ſieh nicht nach Ermorde¬
ten! Welcher Ruhm iſt es, Todte noch einmal zu töd¬
ten? Laß ab davon; in guter Meinung rathe ich dir!“
Aber Kreon wies, wie damals Oedipus, den Wahrſa¬
ger mit kränkenden Worten zurück, ſchalt ihn geldgierig
und bezüchtigte ihn der Lüge. Da entbrannte das Ge¬
müth des Sehers, und ohne Schonung zog er von den
Augen des Königes den Schleier weg, der die Zukunft
bedeckte! „Wiſſe,“ ſprach er, „daß die Sonne nicht
untergehen wird, ehe du aus deinem eigenen Blute einen
Leichnam für zwei Leichen zum Erſatze bringſt. Doppel¬
ten Frevel begehſt du, indem du den Todten der Unter¬
welt vorenthältſt, der ihr gebührt, und die Lebende, die
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 374. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/400>, abgerufen am 22.11.2024.
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