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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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Eurystheus vor Alkmene.

Das Heer der Sieger war in Athen eingezogen,
und Jolaus, der jetzt wieder in seiner vorigen Greisen¬
gestalt erschien, stand mit dem gedemüthigten Verfolger
des herkulischen Geschlechtes vor der Mutter des Herku¬
les, Hände und Füße mit Fesseln gebunden. "Kommst
du endlich, Verhaßter!" rief ihm die Greisin zu, als sie
ihn vor ihren Augen stehen sah. "Hat dich nach so langer
Zeit die Strafgerechtigkeit der Götter ergriffen? Senke
dein Angesicht nicht so zur Erde, sondern blicke deinen
Gegnern Aug' in's Auge. Du bist also der, der du mei¬
nen Sohn so viele Jahre hindurch mit Arbeit und Schmach
überhäuft hast, ihn ausgesandt hast, giftige Schlangen
und grimmige Löwen zu erwürgen, damit er im verderb¬
lichen Kampf erliege, ihn hinuntergejagt hast in das fin¬
stere Reich des Hades, damit er dort der Unterwelt
verfiele? Und nun treibest du mich, seine Mutter, und
diese Schaar seiner Kinder, so viel an dir ist, aus ganz
Griechenland fort, und wolltest sie von den beschirmen¬
den Altären der Götter hinwegreißen? Aber du bist auf
Männer und eine freie Stadt gestoßen, die dich nicht ge¬
fürchtet haben. Jetzt ists an dir, zu sterben, und du darfst
dich glücklich preisen, wenn du nur sterben mußt. Denn
da du mannigfachen Frevel verübt hast, so hättest du
auch verdient durch mancherlei Qual einen vielfachen Tod
zu leiden!" Eurystheus wollte dem Weibe gegenüber keine
Furcht zeigen: er raffte sich zusammen und sprach mit
erzwungener Kaltblütigkeit: "Du sollst kein Wort aus
meinem Munde hören, das einem Flehen gliche; ich

Euryſtheus vor Alkmene.

Das Heer der Sieger war in Athen eingezogen,
und Jolaus, der jetzt wieder in ſeiner vorigen Greiſen¬
geſtalt erſchien, ſtand mit dem gedemüthigten Verfolger
des herkuliſchen Geſchlechtes vor der Mutter des Herku¬
les, Hände und Füße mit Feſſeln gebunden. „Kommſt
du endlich, Verhaßter!“ rief ihm die Greiſin zu, als ſie
ihn vor ihren Augen ſtehen ſah. „Hat dich nach ſo langer
Zeit die Strafgerechtigkeit der Götter ergriffen? Senke
dein Angeſicht nicht ſo zur Erde, ſondern blicke deinen
Gegnern Aug' in's Auge. Du biſt alſo der, der du mei¬
nen Sohn ſo viele Jahre hindurch mit Arbeit und Schmach
überhäuft haſt, ihn ausgeſandt haſt, giftige Schlangen
und grimmige Löwen zu erwürgen, damit er im verderb¬
lichen Kampf erliege, ihn hinuntergejagt haſt in das fin¬
ſtere Reich des Hades, damit er dort der Unterwelt
verfiele? Und nun treibeſt du mich, ſeine Mutter, und
dieſe Schaar ſeiner Kinder, ſo viel an dir iſt, aus ganz
Griechenland fort, und wollteſt ſie von den beſchirmen¬
den Altären der Götter hinwegreißen? Aber du biſt auf
Männer und eine freie Stadt geſtoßen, die dich nicht ge¬
fürchtet haben. Jetzt iſts an dir, zu ſterben, und du darfſt
dich glücklich preiſen, wenn du nur ſterben mußt. Denn
da du mannigfachen Frevel verübt haſt, ſo hätteſt du
auch verdient durch mancherlei Qual einen vielfachen Tod
zu leiden!“ Euryſtheus wollte dem Weibe gegenüber keine
Furcht zeigen: er raffte ſich zuſammen und ſprach mit
erzwungener Kaltblütigkeit: „Du ſollſt kein Wort aus
meinem Munde hören, das einem Flehen gliche; ich

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[399/0425] Euryſtheus vor Alkmene. Das Heer der Sieger war in Athen eingezogen, und Jolaus, der jetzt wieder in ſeiner vorigen Greiſen¬ geſtalt erſchien, ſtand mit dem gedemüthigten Verfolger des herkuliſchen Geſchlechtes vor der Mutter des Herku¬ les, Hände und Füße mit Feſſeln gebunden. „Kommſt du endlich, Verhaßter!“ rief ihm die Greiſin zu, als ſie ihn vor ihren Augen ſtehen ſah. „Hat dich nach ſo langer Zeit die Strafgerechtigkeit der Götter ergriffen? Senke dein Angeſicht nicht ſo zur Erde, ſondern blicke deinen Gegnern Aug' in's Auge. Du biſt alſo der, der du mei¬ nen Sohn ſo viele Jahre hindurch mit Arbeit und Schmach überhäuft haſt, ihn ausgeſandt haſt, giftige Schlangen und grimmige Löwen zu erwürgen, damit er im verderb¬ lichen Kampf erliege, ihn hinuntergejagt haſt in das fin¬ ſtere Reich des Hades, damit er dort der Unterwelt verfiele? Und nun treibeſt du mich, ſeine Mutter, und dieſe Schaar ſeiner Kinder, ſo viel an dir iſt, aus ganz Griechenland fort, und wollteſt ſie von den beſchirmen¬ den Altären der Götter hinwegreißen? Aber du biſt auf Männer und eine freie Stadt geſtoßen, die dich nicht ge¬ fürchtet haben. Jetzt iſts an dir, zu ſterben, und du darfſt dich glücklich preiſen, wenn du nur ſterben mußt. Denn da du mannigfachen Frevel verübt haſt, ſo hätteſt du auch verdient durch mancherlei Qual einen vielfachen Tod zu leiden!“ Euryſtheus wollte dem Weibe gegenüber keine Furcht zeigen: er raffte ſich zuſammen und ſprach mit erzwungener Kaltblütigkeit: „Du ſollſt kein Wort aus meinem Munde hören, das einem Flehen gliche; ich

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 399. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/425>, abgerufen am 21.11.2024.