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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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seinen Streifereien durch jene Wälder auch der mächtige
Gott Pan die Nymphe ansichtig, näherte sich ihr und
warb um ihre Hand dringend und im stolzen Bewußtseyn
seiner Hoheit. Aber die Nymphe verschmähte sein Flehen
und flüchtete vor ihm durch unwegsame Steppen, bis sie
zuletzt an das langsame Wasser des versandeten Flusses
Ladon kam, dessen Wellen doch noch tief genug waren,
der Jungfrau den Uebergang zu wehren. Hier beschwor
sie ihre Schutzgöttin Diana, ehe sie in die Hand des
Gottes fiele, ihrer Verehrerin sich zu erbarmen und sie
zu verwandeln. Indem kam der Gott herangeflogen und
umfaßte die am Ufer zögernde; aber wie staunte er, als
er, statt eine Nymphe zu umarmen, nur ein Schilfrohr
umfaßt hielt; seine lauten Seufzer zogen vervielfältigt
durch das Rohr, und wiederholten sich mit tiefem, kla¬
gendem Gesäusel. Der Zauber dieses Wohllautes tröstete
den getäuschten Gott. Wohl denn, verwandelte Nymphe,
rief er mit schmerzlicher Freude, auch so soll unsre Ver¬
bindung unauflöslich seyn! Und nun schnitt er sich von
dem geliebten Schilfe ungleichförmige Röhren, verknüpfte
sie mit Wachs unter einander und nannte die lieblichtö¬
nende Flöte nach dem Namen der holden Hamadryade,
und seitdem heißt dieses Hirtenrohr Syringe . . . ."

So lautete die Erzählung Merkurs, bei welcher er
den hundertäugigen Wächter unausgesetzt im Auge be¬
hielt. Die Mähre war noch, nicht zu Ende, als er sah,
wie ein Auge um das andere sich unter der Decke gebor¬
gen hatte, und endlich alle die hundert Leuchten in dich¬
tem Schlaf erloschen waren. Nun hemmte der Götter¬
bote seine Stimme, berührte mit seinem Zauberstabe alle
die hundert eingeschläferten Augenlieder und verstärkte ihre

ſeinen Streifereien durch jene Wälder auch der mächtige
Gott Pan die Nymphe anſichtig, näherte ſich ihr und
warb um ihre Hand dringend und im ſtolzen Bewußtſeyn
ſeiner Hoheit. Aber die Nymphe verſchmähte ſein Flehen
und flüchtete vor ihm durch unwegſame Steppen, bis ſie
zuletzt an das langſame Waſſer des verſandeten Fluſſes
Ladon kam, deſſen Wellen doch noch tief genug waren,
der Jungfrau den Uebergang zu wehren. Hier beſchwor
ſie ihre Schutzgöttin Diana, ehe ſie in die Hand des
Gottes fiele, ihrer Verehrerin ſich zu erbarmen und ſie
zu verwandeln. Indem kam der Gott herangeflogen und
umfaßte die am Ufer zögernde; aber wie ſtaunte er, als
er, ſtatt eine Nymphe zu umarmen, nur ein Schilfrohr
umfaßt hielt; ſeine lauten Seufzer zogen vervielfältigt
durch das Rohr, und wiederholten ſich mit tiefem, kla¬
gendem Geſäuſel. Der Zauber dieſes Wohllautes tröſtete
den getäuſchten Gott. Wohl denn, verwandelte Nymphe,
rief er mit ſchmerzlicher Freude, auch ſo ſoll unſre Ver¬
bindung unauflöslich ſeyn! Und nun ſchnitt er ſich von
dem geliebten Schilfe ungleichförmige Röhren, verknüpfte
ſie mit Wachs unter einander und nannte die lieblichtö¬
nende Flöte nach dem Namen der holden Hamadryade,
und ſeitdem heißt dieſes Hirtenrohr Syringe . . . .“

So lautete die Erzählung Merkurs, bei welcher er
den hundertäugigen Wächter unausgeſetzt im Auge be¬
hielt. Die Mähre war noch, nicht zu Ende, als er ſah,
wie ein Auge um das andere ſich unter der Decke gebor¬
gen hatte, und endlich alle die hundert Leuchten in dich¬
tem Schlaf erloſchen waren. Nun hemmte der Götter¬
bote ſeine Stimme, berührte mit ſeinem Zauberſtabe alle
die hundert eingeſchläferten Augenlieder und verſtärkte ihre

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[26/0052] ſeinen Streifereien durch jene Wälder auch der mächtige Gott Pan die Nymphe anſichtig, näherte ſich ihr und warb um ihre Hand dringend und im ſtolzen Bewußtſeyn ſeiner Hoheit. Aber die Nymphe verſchmähte ſein Flehen und flüchtete vor ihm durch unwegſame Steppen, bis ſie zuletzt an das langſame Waſſer des verſandeten Fluſſes Ladon kam, deſſen Wellen doch noch tief genug waren, der Jungfrau den Uebergang zu wehren. Hier beſchwor ſie ihre Schutzgöttin Diana, ehe ſie in die Hand des Gottes fiele, ihrer Verehrerin ſich zu erbarmen und ſie zu verwandeln. Indem kam der Gott herangeflogen und umfaßte die am Ufer zögernde; aber wie ſtaunte er, als er, ſtatt eine Nymphe zu umarmen, nur ein Schilfrohr umfaßt hielt; ſeine lauten Seufzer zogen vervielfältigt durch das Rohr, und wiederholten ſich mit tiefem, kla¬ gendem Geſäuſel. Der Zauber dieſes Wohllautes tröſtete den getäuſchten Gott. Wohl denn, verwandelte Nymphe, rief er mit ſchmerzlicher Freude, auch ſo ſoll unſre Ver¬ bindung unauflöslich ſeyn! Und nun ſchnitt er ſich von dem geliebten Schilfe ungleichförmige Röhren, verknüpfte ſie mit Wachs unter einander und nannte die lieblichtö¬ nende Flöte nach dem Namen der holden Hamadryade, und ſeitdem heißt dieſes Hirtenrohr Syringe . . . .“ So lautete die Erzählung Merkurs, bei welcher er den hundertäugigen Wächter unausgeſetzt im Auge be¬ hielt. Die Mähre war noch, nicht zu Ende, als er ſah, wie ein Auge um das andere ſich unter der Decke gebor¬ gen hatte, und endlich alle die hundert Leuchten in dich¬ tem Schlaf erloſchen waren. Nun hemmte der Götter¬ bote ſeine Stimme, berührte mit ſeinem Zauberſtabe alle die hundert eingeſchläferten Augenlieder und verſtärkte ihre

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/52>, abgerufen am 21.11.2024.