seinen Streifereien durch jene Wälder auch der mächtige Gott Pan die Nymphe ansichtig, näherte sich ihr und warb um ihre Hand dringend und im stolzen Bewußtseyn seiner Hoheit. Aber die Nymphe verschmähte sein Flehen und flüchtete vor ihm durch unwegsame Steppen, bis sie zuletzt an das langsame Wasser des versandeten Flusses Ladon kam, dessen Wellen doch noch tief genug waren, der Jungfrau den Uebergang zu wehren. Hier beschwor sie ihre Schutzgöttin Diana, ehe sie in die Hand des Gottes fiele, ihrer Verehrerin sich zu erbarmen und sie zu verwandeln. Indem kam der Gott herangeflogen und umfaßte die am Ufer zögernde; aber wie staunte er, als er, statt eine Nymphe zu umarmen, nur ein Schilfrohr umfaßt hielt; seine lauten Seufzer zogen vervielfältigt durch das Rohr, und wiederholten sich mit tiefem, kla¬ gendem Gesäusel. Der Zauber dieses Wohllautes tröstete den getäuschten Gott. Wohl denn, verwandelte Nymphe, rief er mit schmerzlicher Freude, auch so soll unsre Ver¬ bindung unauflöslich seyn! Und nun schnitt er sich von dem geliebten Schilfe ungleichförmige Röhren, verknüpfte sie mit Wachs unter einander und nannte die lieblichtö¬ nende Flöte nach dem Namen der holden Hamadryade, und seitdem heißt dieses Hirtenrohr Syringe . . . ."
So lautete die Erzählung Merkurs, bei welcher er den hundertäugigen Wächter unausgesetzt im Auge be¬ hielt. Die Mähre war noch, nicht zu Ende, als er sah, wie ein Auge um das andere sich unter der Decke gebor¬ gen hatte, und endlich alle die hundert Leuchten in dich¬ tem Schlaf erloschen waren. Nun hemmte der Götter¬ bote seine Stimme, berührte mit seinem Zauberstabe alle die hundert eingeschläferten Augenlieder und verstärkte ihre
ſeinen Streifereien durch jene Wälder auch der mächtige Gott Pan die Nymphe anſichtig, näherte ſich ihr und warb um ihre Hand dringend und im ſtolzen Bewußtſeyn ſeiner Hoheit. Aber die Nymphe verſchmähte ſein Flehen und flüchtete vor ihm durch unwegſame Steppen, bis ſie zuletzt an das langſame Waſſer des verſandeten Fluſſes Ladon kam, deſſen Wellen doch noch tief genug waren, der Jungfrau den Uebergang zu wehren. Hier beſchwor ſie ihre Schutzgöttin Diana, ehe ſie in die Hand des Gottes fiele, ihrer Verehrerin ſich zu erbarmen und ſie zu verwandeln. Indem kam der Gott herangeflogen und umfaßte die am Ufer zögernde; aber wie ſtaunte er, als er, ſtatt eine Nymphe zu umarmen, nur ein Schilfrohr umfaßt hielt; ſeine lauten Seufzer zogen vervielfältigt durch das Rohr, und wiederholten ſich mit tiefem, kla¬ gendem Geſäuſel. Der Zauber dieſes Wohllautes tröſtete den getäuſchten Gott. Wohl denn, verwandelte Nymphe, rief er mit ſchmerzlicher Freude, auch ſo ſoll unſre Ver¬ bindung unauflöslich ſeyn! Und nun ſchnitt er ſich von dem geliebten Schilfe ungleichförmige Röhren, verknüpfte ſie mit Wachs unter einander und nannte die lieblichtö¬ nende Flöte nach dem Namen der holden Hamadryade, und ſeitdem heißt dieſes Hirtenrohr Syringe . . . .“
So lautete die Erzählung Merkurs, bei welcher er den hundertäugigen Wächter unausgeſetzt im Auge be¬ hielt. Die Mähre war noch, nicht zu Ende, als er ſah, wie ein Auge um das andere ſich unter der Decke gebor¬ gen hatte, und endlich alle die hundert Leuchten in dich¬ tem Schlaf erloſchen waren. Nun hemmte der Götter¬ bote ſeine Stimme, berührte mit ſeinem Zauberſtabe alle die hundert eingeſchläferten Augenlieder und verſtärkte ihre
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0052"n="26"/>ſeinen Streifereien durch jene Wälder auch der mächtige<lb/>
Gott Pan die Nymphe anſichtig, näherte ſich ihr und<lb/>
warb um ihre Hand dringend und im ſtolzen Bewußtſeyn<lb/>ſeiner Hoheit. Aber die Nymphe verſchmähte ſein Flehen<lb/>
und flüchtete vor ihm durch unwegſame Steppen, bis ſie<lb/>
zuletzt an das langſame Waſſer des verſandeten Fluſſes<lb/>
Ladon kam, deſſen Wellen doch noch tief genug waren,<lb/>
der Jungfrau den Uebergang zu wehren. Hier beſchwor<lb/>ſie ihre Schutzgöttin Diana, ehe ſie in die Hand des<lb/>
Gottes fiele, ihrer Verehrerin ſich zu erbarmen und ſie<lb/>
zu verwandeln. Indem kam der Gott herangeflogen und<lb/>
umfaßte die am Ufer zögernde; aber wie ſtaunte er, als<lb/>
er, ſtatt eine Nymphe zu umarmen, nur ein Schilfrohr<lb/>
umfaßt hielt; ſeine lauten Seufzer zogen vervielfältigt<lb/>
durch das Rohr, und wiederholten ſich mit tiefem, kla¬<lb/>
gendem Geſäuſel. Der Zauber dieſes Wohllautes tröſtete<lb/>
den getäuſchten Gott. Wohl denn, verwandelte Nymphe,<lb/>
rief er mit ſchmerzlicher Freude, auch ſo ſoll unſre Ver¬<lb/>
bindung unauflöslich ſeyn! Und nun ſchnitt er ſich von<lb/>
dem geliebten Schilfe ungleichförmige Röhren, verknüpfte<lb/>ſie mit Wachs unter einander und nannte die lieblichtö¬<lb/>
nende Flöte nach dem Namen der holden Hamadryade,<lb/>
und ſeitdem heißt dieſes Hirtenrohr Syringe . . . .“</p><lb/><p>So lautete die Erzählung Merkurs, bei welcher er<lb/>
den hundertäugigen Wächter unausgeſetzt im Auge be¬<lb/>
hielt. Die Mähre war noch, nicht zu Ende, als er ſah,<lb/>
wie ein Auge um das andere ſich unter der Decke gebor¬<lb/>
gen hatte, und endlich alle die hundert Leuchten in dich¬<lb/>
tem Schlaf erloſchen waren. Nun hemmte der Götter¬<lb/>
bote ſeine Stimme, berührte mit ſeinem Zauberſtabe alle<lb/>
die hundert eingeſchläferten Augenlieder und verſtärkte ihre<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[26/0052]
ſeinen Streifereien durch jene Wälder auch der mächtige
Gott Pan die Nymphe anſichtig, näherte ſich ihr und
warb um ihre Hand dringend und im ſtolzen Bewußtſeyn
ſeiner Hoheit. Aber die Nymphe verſchmähte ſein Flehen
und flüchtete vor ihm durch unwegſame Steppen, bis ſie
zuletzt an das langſame Waſſer des verſandeten Fluſſes
Ladon kam, deſſen Wellen doch noch tief genug waren,
der Jungfrau den Uebergang zu wehren. Hier beſchwor
ſie ihre Schutzgöttin Diana, ehe ſie in die Hand des
Gottes fiele, ihrer Verehrerin ſich zu erbarmen und ſie
zu verwandeln. Indem kam der Gott herangeflogen und
umfaßte die am Ufer zögernde; aber wie ſtaunte er, als
er, ſtatt eine Nymphe zu umarmen, nur ein Schilfrohr
umfaßt hielt; ſeine lauten Seufzer zogen vervielfältigt
durch das Rohr, und wiederholten ſich mit tiefem, kla¬
gendem Geſäuſel. Der Zauber dieſes Wohllautes tröſtete
den getäuſchten Gott. Wohl denn, verwandelte Nymphe,
rief er mit ſchmerzlicher Freude, auch ſo ſoll unſre Ver¬
bindung unauflöslich ſeyn! Und nun ſchnitt er ſich von
dem geliebten Schilfe ungleichförmige Röhren, verknüpfte
ſie mit Wachs unter einander und nannte die lieblichtö¬
nende Flöte nach dem Namen der holden Hamadryade,
und ſeitdem heißt dieſes Hirtenrohr Syringe . . . .“
So lautete die Erzählung Merkurs, bei welcher er
den hundertäugigen Wächter unausgeſetzt im Auge be¬
hielt. Die Mähre war noch, nicht zu Ende, als er ſah,
wie ein Auge um das andere ſich unter der Decke gebor¬
gen hatte, und endlich alle die hundert Leuchten in dich¬
tem Schlaf erloſchen waren. Nun hemmte der Götter¬
bote ſeine Stimme, berührte mit ſeinem Zauberſtabe alle
die hundert eingeſchläferten Augenlieder und verſtärkte ihre
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/52>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.