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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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Betäubung. Während nun der hundertäugige Argus in
tiefem Schlafe nickte, griff Merkur schnell zu dem Sichel¬
schwerte, das er unter seinem Hirtenrocke verborgen trug,
und hieb ihm den gesenkten Nacken, da wo der Hals zu¬
nächst an den Kopf grenzt, durch und durch. Kopf und
Rumpf stürzten nach einander von Felsen herab und färb¬
ten das Gestein mit einem Strome von Blut.

Nun war Jo befreit und obwohl noch unverwandelt,
rannte sie ohne Fesseln davon. Aber den durchdringenden
Blicken Juno's entging nicht, was in der Tiefe geschehen
war. Sie dachte auf eine ausgesuchte Qual für ihre
Nebenbuhlerin und sandte ihr eine Bremse, die das un¬
glückliche Geschöpf durch ihren Stich zum Wahnsinne
trieb. Diese Qual jagte die Geängstigte mit ihrem Sta¬
chel landflüchtig über den ganzen Erdkreis, zu den Scy¬
then, an den Kaukasus, zum Amazonenvolke, zum Cimme¬
rischen Isthmus und an die Maeotische See; dann hin¬
über nach Asien und endlich nach langem verzweiflungs¬
vollem Irrlaufe nach Aegypten. Hier am Strande des
Nilufers angelangt, sank Jo auf ihre Vorderfüße nieder
und hob, den Hals rücklings gebogen, ihre stummen Au¬
gen zum Olymp empor, mit einem Blicke voll Haders
gegen Jupiter. Den jammerte dieses Anblickes; er eilte
zu seiner Gemahlin Juno, umfing ihren Hals mit den Ar¬
men, flehte um Barmherzigkeit für das arme Mädchen,
das schuldlos an seiner Verirrung war, und schwor ihr
beim Wasser der Unterwelt, bei dem die Götter schwören,
von seiner Neigung zu ihr hinfort ganz abzulassen. Juno
hörte während dieser Bitte das flehentliche Brüllen der
Kuh, das zum Olymp emporstieg. Da ließ sich die Göt¬
termutter erweichen, und gab dem Gemahle Vollmacht,

Betäubung. Während nun der hundertäugige Argus in
tiefem Schlafe nickte, griff Merkur ſchnell zu dem Sichel¬
ſchwerte, das er unter ſeinem Hirtenrocke verborgen trug,
und hieb ihm den geſenkten Nacken, da wo der Hals zu¬
nächſt an den Kopf grenzt, durch und durch. Kopf und
Rumpf ſtürzten nach einander von Felſen herab und färb¬
ten das Geſtein mit einem Strome von Blut.

Nun war Jo befreit und obwohl noch unverwandelt,
rannte ſie ohne Feſſeln davon. Aber den durchdringenden
Blicken Juno's entging nicht, was in der Tiefe geſchehen
war. Sie dachte auf eine ausgeſuchte Qual für ihre
Nebenbuhlerin und ſandte ihr eine Bremſe, die das un¬
glückliche Geſchöpf durch ihren Stich zum Wahnſinne
trieb. Dieſe Qual jagte die Geängſtigte mit ihrem Sta¬
chel landflüchtig über den ganzen Erdkreis, zu den Scy¬
then, an den Kaukaſus, zum Amazonenvolke, zum Cimme¬
riſchen Iſthmus und an die Maeotiſche See; dann hin¬
über nach Aſien und endlich nach langem verzweiflungs¬
vollem Irrlaufe nach Aegypten. Hier am Strande des
Nilufers angelangt, ſank Jo auf ihre Vorderfüße nieder
und hob, den Hals rücklings gebogen, ihre ſtummen Au¬
gen zum Olymp empor, mit einem Blicke voll Haders
gegen Jupiter. Den jammerte dieſes Anblickes; er eilte
zu ſeiner Gemahlin Juno, umfing ihren Hals mit den Ar¬
men, flehte um Barmherzigkeit für das arme Mädchen,
das ſchuldlos an ſeiner Verirrung war, und ſchwor ihr
beim Waſſer der Unterwelt, bei dem die Götter ſchwören,
von ſeiner Neigung zu ihr hinfort ganz abzulaſſen. Juno
hörte während dieſer Bitte das flehentliche Brüllen der
Kuh, das zum Olymp emporſtieg. Da ließ ſich die Göt¬
termutter erweichen, und gab dem Gemahle Vollmacht,

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[27/0053] Betäubung. Während nun der hundertäugige Argus in tiefem Schlafe nickte, griff Merkur ſchnell zu dem Sichel¬ ſchwerte, das er unter ſeinem Hirtenrocke verborgen trug, und hieb ihm den geſenkten Nacken, da wo der Hals zu¬ nächſt an den Kopf grenzt, durch und durch. Kopf und Rumpf ſtürzten nach einander von Felſen herab und färb¬ ten das Geſtein mit einem Strome von Blut. Nun war Jo befreit und obwohl noch unverwandelt, rannte ſie ohne Feſſeln davon. Aber den durchdringenden Blicken Juno's entging nicht, was in der Tiefe geſchehen war. Sie dachte auf eine ausgeſuchte Qual für ihre Nebenbuhlerin und ſandte ihr eine Bremſe, die das un¬ glückliche Geſchöpf durch ihren Stich zum Wahnſinne trieb. Dieſe Qual jagte die Geängſtigte mit ihrem Sta¬ chel landflüchtig über den ganzen Erdkreis, zu den Scy¬ then, an den Kaukaſus, zum Amazonenvolke, zum Cimme¬ riſchen Iſthmus und an die Maeotiſche See; dann hin¬ über nach Aſien und endlich nach langem verzweiflungs¬ vollem Irrlaufe nach Aegypten. Hier am Strande des Nilufers angelangt, ſank Jo auf ihre Vorderfüße nieder und hob, den Hals rücklings gebogen, ihre ſtummen Au¬ gen zum Olymp empor, mit einem Blicke voll Haders gegen Jupiter. Den jammerte dieſes Anblickes; er eilte zu ſeiner Gemahlin Juno, umfing ihren Hals mit den Ar¬ men, flehte um Barmherzigkeit für das arme Mädchen, das ſchuldlos an ſeiner Verirrung war, und ſchwor ihr beim Waſſer der Unterwelt, bei dem die Götter ſchwören, von ſeiner Neigung zu ihr hinfort ganz abzulaſſen. Juno hörte während dieſer Bitte das flehentliche Brüllen der Kuh, das zum Olymp emporſtieg. Da ließ ſich die Göt¬ termutter erweichen, und gab dem Gemahle Vollmacht,

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/53>, abgerufen am 21.11.2024.