So sprach er; da legte Phöbus die Strahlen, die ihm rings das Haupt umleuchten, ab, und hieß ihn näher herantreten; dann umarmte er ihn und sprach: "deine Mutter Klymene hat die Wahrheit gesagt, mein Sohn, und ich werde dich vor der Welt nimmermehr verläugnen. Damit du aber ja nicht ferner zweifelst, so erbitte dir ein Geschenk! Ich schwöre beim Styx, dem Flusse der Unterwelt, bei welchem alle Götter schwören, deine Bitte, welche sie auch sey, soll dir erfüllt werden!" Phaethon ließ den Vater kaum ausreden. "So erfülle mir denn, sprach er, meinen glühendsten Wunsch, und vertraue mir nur auf einen Tag die Lenkung deines geflügelten Sonnenwagens."
Schrecken und Reue ward sichtbar auf dem Ange¬ sichte des Gottes. Drei, viermal schüttelte er sein um¬ leuchtetes Haupt und rief endlich: "O Sohn, du hast mich ein sinnloses Wort sprechen lassen! O dürfte ich dir doch meine Verheißung nimmermehr gewähren! Du verlangst ein Geschäft, dem deine Kräfte nicht gewachsen sind; du bist zu jung; du bist sterblich, und was du wünschest, ist ein Werk der Unsterblichen! Ja, du erstre¬ best sogar mehr, als den übrigen Göttern zu erlangen vergönnt ist. Denn ausser mir vermag keiner von ihnen auf der gluthensprühenden Axe zu stehen. Der Weg, den mein Wagen zu machen hat, ist gar steil, mit Mühe er¬ klimmt ihn in der Frühe des Morgens mein noch frisches Rossegespann. Die Mitte der Laufbahn ist zu oberst am Himmel. Glaube mir, wenn ich auf meinem Wagen in solcher Höhe stehe, da kommt mich oft selbst ein Grausen an und mein Haupt droht ein Schwindel zu fassen, wenn ich so herniederblicke in die Tiefe, und Meer und Land weit unter mir liegt. Zuletzt ist dann die Straße ganz
So ſprach er; da legte Phöbus die Strahlen, die ihm rings das Haupt umleuchten, ab, und hieß ihn näher herantreten; dann umarmte er ihn und ſprach: „deine Mutter Klymene hat die Wahrheit geſagt, mein Sohn, und ich werde dich vor der Welt nimmermehr verläugnen. Damit du aber ja nicht ferner zweifelſt, ſo erbitte dir ein Geſchenk! Ich ſchwöre beim Styx, dem Fluſſe der Unterwelt, bei welchem alle Götter ſchwören, deine Bitte, welche ſie auch ſey, ſoll dir erfüllt werden!“ Phaethon ließ den Vater kaum ausreden. „So erfülle mir denn, ſprach er, meinen glühendſten Wunſch, und vertraue mir nur auf einen Tag die Lenkung deines geflügelten Sonnenwagens.“
Schrecken und Reue ward ſichtbar auf dem Ange¬ ſichte des Gottes. Drei, viermal ſchüttelte er ſein um¬ leuchtetes Haupt und rief endlich: „O Sohn, du haſt mich ein ſinnloſes Wort ſprechen laſſen! O dürfte ich dir doch meine Verheißung nimmermehr gewähren! Du verlangſt ein Geſchäft, dem deine Kräfte nicht gewachſen ſind; du biſt zu jung; du biſt ſterblich, und was du wünſcheſt, iſt ein Werk der Unſterblichen! Ja, du erſtre¬ beſt ſogar mehr, als den übrigen Göttern zu erlangen vergönnt iſt. Denn auſſer mir vermag keiner von ihnen auf der gluthenſprühenden Axe zu ſtehen. Der Weg, den mein Wagen zu machen hat, iſt gar ſteil, mit Mühe er¬ klimmt ihn in der Frühe des Morgens mein noch friſches Roſſegeſpann. Die Mitte der Laufbahn iſt zu oberſt am Himmel. Glaube mir, wenn ich auf meinem Wagen in ſolcher Höhe ſtehe, da kommt mich oft ſelbſt ein Grauſen an und mein Haupt droht ein Schwindel zu faſſen, wenn ich ſo herniederblicke in die Tiefe, und Meer und Land weit unter mir liegt. Zuletzt iſt dann die Straße ganz
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So ſprach er; da legte Phöbus die Strahlen, die ihm
rings das Haupt umleuchten, ab, und hieß ihn näher
herantreten; dann umarmte er ihn und ſprach: „deine
Mutter Klymene hat die Wahrheit geſagt, mein Sohn, und
ich werde dich vor der Welt nimmermehr verläugnen.
Damit du aber ja nicht ferner zweifelſt, ſo erbitte dir
ein Geſchenk! Ich ſchwöre beim Styx, dem Fluſſe der
Unterwelt, bei welchem alle Götter ſchwören, deine Bitte,
welche ſie auch ſey, ſoll dir erfüllt werden!“ Phaethon ließ
den Vater kaum ausreden. „So erfülle mir denn, ſprach
er, meinen glühendſten Wunſch, und vertraue mir nur auf
einen Tag die Lenkung deines geflügelten Sonnenwagens.“
Schrecken und Reue ward ſichtbar auf dem Ange¬
ſichte des Gottes. Drei, viermal ſchüttelte er ſein um¬
leuchtetes Haupt und rief endlich: „O Sohn, du haſt
mich ein ſinnloſes Wort ſprechen laſſen! O dürfte ich
dir doch meine Verheißung nimmermehr gewähren! Du
verlangſt ein Geſchäft, dem deine Kräfte nicht gewachſen
ſind; du biſt zu jung; du biſt ſterblich, und was du
wünſcheſt, iſt ein Werk der Unſterblichen! Ja, du erſtre¬
beſt ſogar mehr, als den übrigen Göttern zu erlangen
vergönnt iſt. Denn auſſer mir vermag keiner von ihnen
auf der gluthenſprühenden Axe zu ſtehen. Der Weg, den
mein Wagen zu machen hat, iſt gar ſteil, mit Mühe er¬
klimmt ihn in der Frühe des Morgens mein noch friſches
Roſſegeſpann. Die Mitte der Laufbahn iſt zu oberſt am
Himmel. Glaube mir, wenn ich auf meinem Wagen in
ſolcher Höhe ſtehe, da kommt mich oft ſelbſt ein Grauſen
an und mein Haupt droht ein Schwindel zu faſſen, wenn
ich ſo herniederblicke in die Tiefe, und Meer und Land
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/56>, abgerufen am 21.11.2024.
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