streicheln. Der Stier schien dies zu merken, denn er kam immer näher und stellte sich endlich dicht vor Europa hin. Diese sprang auf und wich anfangs einige Schritte zurück; als aber das Thier so gar zahm stehen blieb, faßte sie sich ein Herz, näherte sich wieder und hielt ihm ihren Blumenstrauß vor das schäumende Maul, aus dem sie ein ambrosischer Athem anwehte. Der Stier leckte schmeichelnd die dargebotenen Blumen und die zarte Jung¬ frauenhand, die ihm den Schaum abwischte, und ihn lieb¬ reich zu streicheln begann. Immer reizender kam der herrliche Stier der Jungfrau vor, ja sie wagte es und drückte einen Kuß auf seine glänzende Stirne. Da ließ das Thier ein freudiges Brüllen hören, nicht wie andere gemeine Stiere brüllen, sondern es tönte wie der Klang einer lydischen Flöte, die ein Bergthal durchhallt. Dann kauerte er sich zu den Füßen der schönen Fürstin nieder, blickte sie sehnsüchtig an, wandte ihr den Nacken zu und zeigte ihr den breiten Rücken. Da sprach Europa zu ih¬ ren Freundinnen, den Jungfrauen: "Kommt doch auch näher, liebe Gespielinnen, daß wir uns auf den Rücken dieses schönen Stieres setzen und unsere Lust haben: ich glaube, er könnte unserer Viere aufnehmen und beherbergen, wie ein geräumiges Schiff. Er ist so sanftmüthig anzu¬ schauen, so holdselig; er gleicht gar nicht anderen Stie¬ ren: wahrhaftig, er hat Verstand, wie ein Mensch und es fehlt ihm gar nichts als die Rede!" Mit diesen Wor¬ ten nahm sie ihren Gespielinnen die Kränze, einen nach dem andern, aus den Händen und behängte damit die gesenkten Hörner des Stieres; da schwang sie sich lächelnd auf seinen Rücken, während ihre Freundinnen zaudernd und unschlüßig zusahen.
ſtreicheln. Der Stier ſchien dies zu merken, denn er kam immer näher und ſtellte ſich endlich dicht vor Europa hin. Dieſe ſprang auf und wich anfangs einige Schritte zurück; als aber das Thier ſo gar zahm ſtehen blieb, faßte ſie ſich ein Herz, näherte ſich wieder und hielt ihm ihren Blumenſtrauß vor das ſchäumende Maul, aus dem ſie ein ambroſiſcher Athem anwehte. Der Stier leckte ſchmeichelnd die dargebotenen Blumen und die zarte Jung¬ frauenhand, die ihm den Schaum abwiſchte, und ihn lieb¬ reich zu ſtreicheln begann. Immer reizender kam der herrliche Stier der Jungfrau vor, ja ſie wagte es und drückte einen Kuß auf ſeine glänzende Stirne. Da ließ das Thier ein freudiges Brüllen hören, nicht wie andere gemeine Stiere brüllen, ſondern es tönte wie der Klang einer lydiſchen Flöte, die ein Bergthal durchhallt. Dann kauerte er ſich zu den Füßen der ſchönen Fürſtin nieder, blickte ſie ſehnſüchtig an, wandte ihr den Nacken zu und zeigte ihr den breiten Rücken. Da ſprach Europa zu ih¬ ren Freundinnen, den Jungfrauen: „Kommt doch auch näher, liebe Geſpielinnen, daß wir uns auf den Rücken dieſes ſchönen Stieres ſetzen und unſere Luſt haben: ich glaube, er könnte unſerer Viere aufnehmen und beherbergen, wie ein geräumiges Schiff. Er iſt ſo ſanftmüthig anzu¬ ſchauen, ſo holdſelig; er gleicht gar nicht anderen Stie¬ ren: wahrhaftig, er hat Verſtand, wie ein Menſch und es fehlt ihm gar nichts als die Rede!“ Mit dieſen Wor¬ ten nahm ſie ihren Geſpielinnen die Kränze, einen nach dem andern, aus den Händen und behängte damit die geſenkten Hörner des Stieres; da ſchwang ſie ſich lächelnd auf ſeinen Rücken, während ihre Freundinnen zaudernd und unſchlüßig zuſahen.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0065"n="39"/>ſtreicheln. Der Stier ſchien dies zu merken, denn er<lb/>
kam immer näher und ſtellte ſich endlich dicht vor Europa<lb/>
hin. Dieſe ſprang auf und wich anfangs einige Schritte<lb/>
zurück; als aber das Thier ſo gar zahm ſtehen blieb,<lb/>
faßte ſie ſich ein Herz, näherte ſich wieder und hielt ihm<lb/>
ihren Blumenſtrauß vor das ſchäumende Maul, aus dem<lb/>ſie ein ambroſiſcher Athem anwehte. Der Stier leckte<lb/>ſchmeichelnd die dargebotenen Blumen und die zarte Jung¬<lb/>
frauenhand, die ihm den Schaum abwiſchte, und ihn lieb¬<lb/>
reich zu ſtreicheln begann. Immer reizender kam der<lb/>
herrliche Stier der Jungfrau vor, ja ſie wagte es und<lb/>
drückte einen Kuß auf ſeine glänzende Stirne. Da ließ<lb/>
das Thier ein freudiges Brüllen hören, nicht wie andere<lb/>
gemeine Stiere brüllen, ſondern es tönte wie der Klang<lb/>
einer lydiſchen Flöte, die ein Bergthal durchhallt. Dann<lb/>
kauerte er ſich zu den Füßen der ſchönen Fürſtin nieder,<lb/>
blickte ſie ſehnſüchtig an, wandte ihr den Nacken zu und<lb/>
zeigte ihr den breiten Rücken. Da ſprach Europa zu ih¬<lb/>
ren Freundinnen, den Jungfrauen: „Kommt doch auch<lb/>
näher, liebe Geſpielinnen, daß wir uns auf den Rücken<lb/>
dieſes ſchönen Stieres ſetzen und unſere Luſt haben: ich<lb/>
glaube, er könnte unſerer Viere aufnehmen und beherbergen,<lb/>
wie ein geräumiges Schiff. Er iſt ſo ſanftmüthig anzu¬<lb/>ſchauen, ſo holdſelig; er gleicht gar nicht anderen Stie¬<lb/>
ren: wahrhaftig, er hat Verſtand, wie ein Menſch und<lb/>
es fehlt ihm gar nichts als die Rede!“ Mit dieſen Wor¬<lb/>
ten nahm ſie ihren Geſpielinnen die Kränze, einen nach<lb/>
dem andern, aus den Händen und behängte damit die<lb/>
geſenkten Hörner des Stieres; da ſchwang ſie ſich lächelnd<lb/>
auf ſeinen Rücken, während ihre Freundinnen zaudernd und<lb/>
unſchlüßig zuſahen.</p><lb/></div></div></body></text></TEI>
[39/0065]
ſtreicheln. Der Stier ſchien dies zu merken, denn er
kam immer näher und ſtellte ſich endlich dicht vor Europa
hin. Dieſe ſprang auf und wich anfangs einige Schritte
zurück; als aber das Thier ſo gar zahm ſtehen blieb,
faßte ſie ſich ein Herz, näherte ſich wieder und hielt ihm
ihren Blumenſtrauß vor das ſchäumende Maul, aus dem
ſie ein ambroſiſcher Athem anwehte. Der Stier leckte
ſchmeichelnd die dargebotenen Blumen und die zarte Jung¬
frauenhand, die ihm den Schaum abwiſchte, und ihn lieb¬
reich zu ſtreicheln begann. Immer reizender kam der
herrliche Stier der Jungfrau vor, ja ſie wagte es und
drückte einen Kuß auf ſeine glänzende Stirne. Da ließ
das Thier ein freudiges Brüllen hören, nicht wie andere
gemeine Stiere brüllen, ſondern es tönte wie der Klang
einer lydiſchen Flöte, die ein Bergthal durchhallt. Dann
kauerte er ſich zu den Füßen der ſchönen Fürſtin nieder,
blickte ſie ſehnſüchtig an, wandte ihr den Nacken zu und
zeigte ihr den breiten Rücken. Da ſprach Europa zu ih¬
ren Freundinnen, den Jungfrauen: „Kommt doch auch
näher, liebe Geſpielinnen, daß wir uns auf den Rücken
dieſes ſchönen Stieres ſetzen und unſere Luſt haben: ich
glaube, er könnte unſerer Viere aufnehmen und beherbergen,
wie ein geräumiges Schiff. Er iſt ſo ſanftmüthig anzu¬
ſchauen, ſo holdſelig; er gleicht gar nicht anderen Stie¬
ren: wahrhaftig, er hat Verſtand, wie ein Menſch und
es fehlt ihm gar nichts als die Rede!“ Mit dieſen Wor¬
ten nahm ſie ihren Geſpielinnen die Kränze, einen nach
dem andern, aus den Händen und behängte damit die
geſenkten Hörner des Stieres; da ſchwang ſie ſich lächelnd
auf ſeinen Rücken, während ihre Freundinnen zaudernd und
unſchlüßig zuſahen.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/65>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.