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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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durch ihren Besitz beglückt würde. Europa in ihrer trost¬
losen Verlassenheit, reichte ihm ihre Hand als Zeichen
der Einwilligung, und Jupiter hatte das Ziel seiner Wünsche
erreicht. Auch er verschwand, wie er gekommen war.
Aus langer Betäubung erwachte Europa, als schon die
Morgensonne am Himmel stand. Mit verirrten Blicken
sah sie um sich her, als wollte sie die Heimat suchen.
"Vater, Vater!" rief sie mit durchdringendem Wehelaut,
besann sich eine Weile und rief wieder: "Ich verworfene
Tochter, wie darf ich den Vaternamen nur aussprechen?
Welcher Wahnsinn hat mich die Kindesliebe vergessen
lassen!" Dann sah sie wieder, wie sich besinnend,
umher und fragte sich selbst: "Woher, wohin bin ich ge¬
kommen? -- Zu leicht ist Ein Tod für die Schuld der
Jungfrau! Aber wache ich denn auch und beweine
einen wirklichen Schimpf? Nein, ich bin gewiß unschuldig
an allem, und es neckt meinen Geist nur ein nichtiges
Traumbild, das der Morgenschlaf wieder entführen wird!
Wie wäre es auch möglich, daß ich mich hätte entschlies¬
sen können, lieber auf dem Rücken eines Unthieres durch
unendliche Fluten zu schwimmen, als in holder Sicher¬
heit frische Blumen zu pflücken!" -- So sprach sie und
fuhr mit der flachen Hand über die Augenlieder, als
wollte sie den verhaßten Traum verwischen. Als sie aber
um sich blickte, blieben die fremden Gegenstände unverrückt
vor ihren Augen; unbekannte Bäume und Felsen umga¬
ben sie, und eine unheimliche Meeresflut schäumte, an un¬
heimlichen Klippen sich brechend, empor am niegeschauten
Gestade. "Ach, wer mir jetzt den verfluchten Stier aus¬
lieferte," rief sie verzweifelnd: "wie wollte ich ihn zerflei¬
schen: nicht ruhen wollte ich, bis ich die Hörner des Un¬

durch ihren Beſitz beglückt würde. Europa in ihrer troſt¬
loſen Verlaſſenheit, reichte ihm ihre Hand als Zeichen
der Einwilligung, und Jupiter hatte das Ziel ſeiner Wünſche
erreicht. Auch er verſchwand, wie er gekommen war.
Aus langer Betäubung erwachte Europa, als ſchon die
Morgenſonne am Himmel ſtand. Mit verirrten Blicken
ſah ſie um ſich her, als wollte ſie die Heimat ſuchen.
„Vater, Vater!“ rief ſie mit durchdringendem Wehelaut,
beſann ſich eine Weile und rief wieder: „Ich verworfene
Tochter, wie darf ich den Vaternamen nur ausſprechen?
Welcher Wahnſinn hat mich die Kindesliebe vergeſſen
laſſen!“ Dann ſah ſie wieder, wie ſich beſinnend,
umher und fragte ſich ſelbſt: „Woher, wohin bin ich ge¬
kommen? — Zu leicht iſt Ein Tod für die Schuld der
Jungfrau! Aber wache ich denn auch und beweine
einen wirklichen Schimpf? Nein, ich bin gewiß unſchuldig
an allem, und es neckt meinen Geiſt nur ein nichtiges
Traumbild, das der Morgenſchlaf wieder entführen wird!
Wie wäre es auch möglich, daß ich mich hätte entſchlieſ¬
ſen können, lieber auf dem Rücken eines Unthieres durch
unendliche Fluten zu ſchwimmen, als in holder Sicher¬
heit friſche Blumen zu pflücken!“ — So ſprach ſie und
fuhr mit der flachen Hand über die Augenlieder, als
wollte ſie den verhaßten Traum verwiſchen. Als ſie aber
um ſich blickte, blieben die fremden Gegenſtände unverrückt
vor ihren Augen; unbekannte Bäume und Felſen umga¬
ben ſie, und eine unheimliche Meeresflut ſchäumte, an un¬
heimlichen Klippen ſich brechend, empor am niegeſchauten
Geſtade. „Ach, wer mir jetzt den verfluchten Stier aus¬
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[41/0067] durch ihren Beſitz beglückt würde. Europa in ihrer troſt¬ loſen Verlaſſenheit, reichte ihm ihre Hand als Zeichen der Einwilligung, und Jupiter hatte das Ziel ſeiner Wünſche erreicht. Auch er verſchwand, wie er gekommen war. Aus langer Betäubung erwachte Europa, als ſchon die Morgenſonne am Himmel ſtand. Mit verirrten Blicken ſah ſie um ſich her, als wollte ſie die Heimat ſuchen. „Vater, Vater!“ rief ſie mit durchdringendem Wehelaut, beſann ſich eine Weile und rief wieder: „Ich verworfene Tochter, wie darf ich den Vaternamen nur ausſprechen? Welcher Wahnſinn hat mich die Kindesliebe vergeſſen laſſen!“ Dann ſah ſie wieder, wie ſich beſinnend, umher und fragte ſich ſelbſt: „Woher, wohin bin ich ge¬ kommen? — Zu leicht iſt Ein Tod für die Schuld der Jungfrau! Aber wache ich denn auch und beweine einen wirklichen Schimpf? Nein, ich bin gewiß unſchuldig an allem, und es neckt meinen Geiſt nur ein nichtiges Traumbild, das der Morgenſchlaf wieder entführen wird! Wie wäre es auch möglich, daß ich mich hätte entſchlieſ¬ ſen können, lieber auf dem Rücken eines Unthieres durch unendliche Fluten zu ſchwimmen, als in holder Sicher¬ heit friſche Blumen zu pflücken!“ — So ſprach ſie und fuhr mit der flachen Hand über die Augenlieder, als wollte ſie den verhaßten Traum verwiſchen. Als ſie aber um ſich blickte, blieben die fremden Gegenſtände unverrückt vor ihren Augen; unbekannte Bäume und Felſen umga¬ ben ſie, und eine unheimliche Meeresflut ſchäumte, an un¬ heimlichen Klippen ſich brechend, empor am niegeſchauten Geſtade. „Ach, wer mir jetzt den verfluchten Stier aus¬ lieferte,“ rief ſie verzweifelnd: „wie wollte ich ihn zerflei¬ ſchen: nicht ruhen wollte ich, bis ich die Hörner des Un¬

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/67>, abgerufen am 21.11.2024.