geheures zerbrochen, das mir jüngst noch so liebenswürdig erschien! Eitler Wunsch! Nachdem ich schamlos die Hei¬ math verlassen, was bleibt mir übrig, als zu sterben? Wenn ich nicht von allen Göttern verlassen bin, so sen¬ det mir, ihr Himmlischen, einen Löwen, einen Tiger! Vielleicht reizt sie die Fülle meiner Schönheit, und ich muß nicht warten, bis der entsetzliche Hunger an diesen blühen¬ den Wangen zehrt!" Aber kein wildes Thier erschien; lächelnd und friedlich lag die fremde Gegend vor ihr und vom unumwölkten Himmel leuchtete die Sonne. Wie von Furien bestürmt, sprang die verlassene Jungfrau auf. "Elende Europa, rief sie, hörst du nicht die Stimme dei¬ nes abwesenden Vaters, der dich verflucht, wenn du dei¬ nem schimpflichen Leben nicht ein Ende machst! Zeigt er dir nicht jene Esche, an welche du dich mit deinem Gür¬ tel aufhängen kannst? Deutet er nicht hin auf jenes spitze Felsgestein, von welchem herab dich ein Sprung in den Sturm der Meeresflut begraben wird? Oder willst du lieber einem Barbarenfürsten als Nebenweib dienen, und, als Sclavin, von Tag zu Tag die zugetheilte Wolle abspinnen, du, ei¬ nes hohen Königes Tochter?" So quälte sich das un¬ glückliche verlassene Mädchen mit Todesgedanken, und fühlte doch nicht den Muth in sich, zu sterben. Da ver¬ nahm sie plötzlich ein heimliches spottendes Flüstern hin¬ ter sich, glaubte sich belauscht, und blickte erschrocken rück¬ wärts. In überirdischem Glanze sah sie da die Göttin Ve¬ nus vor sich stehen, ihren kleinen Sohn, den Liebesgott, mit gesenktem Bogen zur Seite. Noch schwebte ein Lä¬ cheln auf den Lippen der Göttin, dann sprach sie: "Laß deinen Zorn und Hader, schönes Mädchen! Der verhaßte Stier wird kommen und dir die Hörner zum Zerreißen
geheures zerbrochen, das mir jüngſt noch ſo liebenswürdig erſchien! Eitler Wunſch! Nachdem ich ſchamlos die Hei¬ math verlaſſen, was bleibt mir übrig, als zu ſterben? Wenn ich nicht von allen Göttern verlaſſen bin, ſo ſen¬ det mir, ihr Himmliſchen, einen Löwen, einen Tiger! Vielleicht reizt ſie die Fülle meiner Schönheit, und ich muß nicht warten, bis der entſetzliche Hunger an dieſen blühen¬ den Wangen zehrt!“ Aber kein wildes Thier erſchien; lächelnd und friedlich lag die fremde Gegend vor ihr und vom unumwölkten Himmel leuchtete die Sonne. Wie von Furien beſtürmt, ſprang die verlaſſene Jungfrau auf. „Elende Europa, rief ſie, hörſt du nicht die Stimme dei¬ nes abweſenden Vaters, der dich verflucht, wenn du dei¬ nem ſchimpflichen Leben nicht ein Ende machſt! Zeigt er dir nicht jene Eſche, an welche du dich mit deinem Gür¬ tel aufhängen kannſt? Deutet er nicht hin auf jenes ſpitze Felsgeſtein, von welchem herab dich ein Sprung in den Sturm der Meeresflut begraben wird? Oder willſt du lieber einem Barbarenfürſten als Nebenweib dienen, und, als Sclavin, von Tag zu Tag die zugetheilte Wolle abſpinnen, du, ei¬ nes hohen Königes Tochter?“ So quälte ſich das un¬ glückliche verlaſſene Mädchen mit Todesgedanken, und fühlte doch nicht den Muth in ſich, zu ſterben. Da ver¬ nahm ſie plötzlich ein heimliches ſpottendes Flüſtern hin¬ ter ſich, glaubte ſich belauſcht, und blickte erſchrocken rück¬ wärts. In überirdiſchem Glanze ſah ſie da die Göttin Ve¬ nus vor ſich ſtehen, ihren kleinen Sohn, den Liebesgott, mit geſenktem Bogen zur Seite. Noch ſchwebte ein Lä¬ cheln auf den Lippen der Göttin, dann ſprach ſie: „Laß deinen Zorn und Hader, ſchönes Mädchen! Der verhaßte Stier wird kommen und dir die Hörner zum Zerreißen
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geheures zerbrochen, das mir jüngſt noch ſo liebenswürdig
erſchien! Eitler Wunſch! Nachdem ich ſchamlos die Hei¬
math verlaſſen, was bleibt mir übrig, als zu ſterben?
Wenn ich nicht von allen Göttern verlaſſen bin, ſo ſen¬
det mir, ihr Himmliſchen, einen Löwen, einen Tiger!
Vielleicht reizt ſie die Fülle meiner Schönheit, und ich muß
nicht warten, bis der entſetzliche Hunger an dieſen blühen¬
den Wangen zehrt!“ Aber kein wildes Thier erſchien;
lächelnd und friedlich lag die fremde Gegend vor ihr
und vom unumwölkten Himmel leuchtete die Sonne. Wie
von Furien beſtürmt, ſprang die verlaſſene Jungfrau auf.
„Elende Europa, rief ſie, hörſt du nicht die Stimme dei¬
nes abweſenden Vaters, der dich verflucht, wenn du dei¬
nem ſchimpflichen Leben nicht ein Ende machſt! Zeigt er
dir nicht jene Eſche, an welche du dich mit deinem Gür¬
tel aufhängen kannſt? Deutet er nicht hin auf jenes ſpitze
Felsgeſtein, von welchem herab dich ein Sprung in den Sturm
der Meeresflut begraben wird? Oder willſt du lieber einem
Barbarenfürſten als Nebenweib dienen, und, als Sclavin,
von Tag zu Tag die zugetheilte Wolle abſpinnen, du, ei¬
nes hohen Königes Tochter?“ So quälte ſich das un¬
glückliche verlaſſene Mädchen mit Todesgedanken, und
fühlte doch nicht den Muth in ſich, zu ſterben. Da ver¬
nahm ſie plötzlich ein heimliches ſpottendes Flüſtern hin¬
ter ſich, glaubte ſich belauſcht, und blickte erſchrocken rück¬
wärts. In überirdiſchem Glanze ſah ſie da die Göttin Ve¬
nus vor ſich ſtehen, ihren kleinen Sohn, den Liebesgott,
mit geſenktem Bogen zur Seite. Noch ſchwebte ein Lä¬
cheln auf den Lippen der Göttin, dann ſprach ſie: „Laß
deinen Zorn und Hader, ſchönes Mädchen! Der verhaßte
Stier wird kommen und dir die Hörner zum Zerreißen
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/68>, abgerufen am 21.11.2024.
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