Endlich durchwühlten sie mit harten Eichenästen den Bo¬ den rings um den Tannenbaum, bis die Wurzel bloß war, und Pentheus unter lautem Jammergeschrei mit der stür¬ zenden Tanne aus der Höhe zu Boden fiel. Seine Mut¬ ter Agave, vom Gotte geblendet, daß sie den Sohn nicht wieder erkannte, gab das erste Zeichen zum Morde. Dem Könige selbst hatte die Angst seine volle Besinnung wie¬ der gegeben. "Mutter," rief er, sie umhalsend, "kennst du deinen Sohn nicht mehr, deinen Sohn Pentheus, den du im Hause Echions geboren? Hab' Erbarmen mit mir, sey du es nicht, Mutter, die meine Sünden am eigenen Kinde straft!" Aber die wahnsinnige Bacchuspriesterin, schäu¬ mend und mit weit aufgesperrten Augen, sah nicht ihren Sohn in Pentheus, sondern glaubte einen Berglöwen in ihm zu erblicken, faßte ihn an der Schulter und riß ihm den rechten Arm vom Leibe; die Schwestern verstümmel¬ ten den linken; die ganze, wüthende Rotte stürmte auf ihn ein, jede ergriff ein Glied des Zerrissenen; Agave selbst umklammerte das entrissene Haupt mit blutigen Fingern und trug es als ein Löwenhaupt auf einen Thyr¬ susstab gesteckt durch die Wälder des Cithäron.
So rächte der mächtige Gott Bacchus sich an dem Verächter seines Gottesdienstes.
Endlich durchwühlten ſie mit harten Eichenäſten den Bo¬ den rings um den Tannenbaum, bis die Wurzel bloß war, und Pentheus unter lautem Jammergeſchrei mit der ſtür¬ zenden Tanne aus der Höhe zu Boden fiel. Seine Mut¬ ter Agave, vom Gotte geblendet, daß ſie den Sohn nicht wieder erkannte, gab das erſte Zeichen zum Morde. Dem Könige ſelbſt hatte die Angſt ſeine volle Beſinnung wie¬ der gegeben. „Mutter,“ rief er, ſie umhalſend, „kennſt du deinen Sohn nicht mehr, deinen Sohn Pentheus, den du im Hauſe Echions geboren? Hab' Erbarmen mit mir, ſey du es nicht, Mutter, die meine Sünden am eigenen Kinde ſtraft!“ Aber die wahnſinnige Bacchusprieſterin, ſchäu¬ mend und mit weit aufgeſperrten Augen, ſah nicht ihren Sohn in Pentheus, ſondern glaubte einen Berglöwen in ihm zu erblicken, faßte ihn an der Schulter und riß ihm den rechten Arm vom Leibe; die Schweſtern verſtümmel¬ ten den linken; die ganze, wüthende Rotte ſtürmte auf ihn ein, jede ergriff ein Glied des Zerriſſenen; Agave ſelbſt umklammerte das entriſſene Haupt mit blutigen Fingern und trug es als ein Löwenhaupt auf einen Thyr¬ ſusſtab geſteckt durch die Wälder des Cithäron.
So rächte der mächtige Gott Bacchus ſich an dem Verächter ſeines Gottesdienſtes.
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Endlich durchwühlten ſie mit harten Eichenäſten den Bo¬
den rings um den Tannenbaum, bis die Wurzel bloß war,
und Pentheus unter lautem Jammergeſchrei mit der ſtür¬
zenden Tanne aus der Höhe zu Boden fiel. Seine Mut¬
ter Agave, vom Gotte geblendet, daß ſie den Sohn nicht
wieder erkannte, gab das erſte Zeichen zum Morde. Dem
Könige ſelbſt hatte die Angſt ſeine volle Beſinnung wie¬
der gegeben. „Mutter,“ rief er, ſie umhalſend, „kennſt
du deinen Sohn nicht mehr, deinen Sohn Pentheus, den
du im Hauſe Echions geboren? Hab' Erbarmen mit mir,
ſey du es nicht, Mutter, die meine Sünden am eigenen
Kinde ſtraft!“ Aber die wahnſinnige Bacchusprieſterin, ſchäu¬
mend und mit weit aufgeſperrten Augen, ſah nicht ihren
Sohn in Pentheus, ſondern glaubte einen Berglöwen in
ihm zu erblicken, faßte ihn an der Schulter und riß ihm
den rechten Arm vom Leibe; die Schweſtern verſtümmel¬
ten den linken; die ganze, wüthende Rotte ſtürmte auf
ihn ein, jede ergriff ein Glied des Zerriſſenen; Agave
ſelbſt umklammerte das entriſſene Haupt mit blutigen
Fingern und trug es als ein Löwenhaupt auf einen Thyr¬
ſusſtab geſteckt durch die Wälder des Cithäron.
So rächte der mächtige Gott Bacchus ſich an dem
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/83>, abgerufen am 21.11.2024.
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