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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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langte und erhielt einen Thyrsusstab, und stürmte in Ra¬
serei dahin. So gelangten sie in ein tiefes, quellenrei¬
ches, von Fichten beschattetes Thal, wo die Bacchus¬
priesterinnen ihrem Gotte Hymnen sangen, andere ihre
Thyrsusstäbe mit frischem Epheu bekleideten. Des Pen¬
theus Augen aber waren mit Blindheit geschlagen, oder
sein Führer Bacchus hatte ihn so zu leiten gewußt, daß
sie die Versammlung der begeisterten Frauen nicht gewahr
wurden. Der Gott faßte nun mit seiner wunderbar in
die Höhe reichenden Hand den Gipfel eines Tannenbau¬
mes, beugte ihn hernieder, wie man einen Weidenzweig
biegt, setzte den wahnsinnigen Pentheus darauf, und ließ
den Baum sachte und vorsichtig allmählig wieder in seine
vorige Lage zurückkehren. Wie durch ein Wunder blieb
der König fest sitzen und erschien auf einmal, hoch auf
dem Tannenwipfel hingepflanzt, den Bacchantinnen im
Thale, ohne daß er sie erblickte. Dann rief Dionysos
mit lauter Stimme ins Thal hinab: "Ihr Mägde, schauet
hier den, der unsere heiligen Feste verspottet; bestrafet
ihn!" Der Aether schwieg, kein Blatt im Walde regte sich,
kein Schrei eines Wildes ertönte. Auf richteten sich
die Bacchantinnen, sperrten ihre Augensterne weit auf, und
horchten auf der Stimme Hall, die zum zweitenmal er¬
tönte. Als sie in dem Wort ihren Meister erkannt,
schossen sie dahin, schneller denn Tauben; wilder Wahnsinn,
vom Gotte gesandt, trieb sie mitten durch die angeschwol¬
lenen Waldbäche. Endlich waren sie nahe genug gekom¬
men, um ihren Herrn und Verfolger auf dem Tannenwi¬
pfel sitzen zu sehen. Schnell flogen Kiesel, abgerissene
Tannenäste, Thyrsusstäbe gegen den Unglücklichen empor,
ohne die Höhe zu erreichen, in der er zitternd schwebte.

langte und erhielt einen Thyrſusſtab, und ſtürmte in Ra¬
ſerei dahin. So gelangten ſie in ein tiefes, quellenrei¬
ches, von Fichten beſchattetes Thal, wo die Bacchus¬
prieſterinnen ihrem Gotte Hymnen ſangen, andere ihre
Thyrſusſtäbe mit friſchem Epheu bekleideten. Des Pen¬
theus Augen aber waren mit Blindheit geſchlagen, oder
ſein Führer Bacchus hatte ihn ſo zu leiten gewußt, daß
ſie die Verſammlung der begeiſterten Frauen nicht gewahr
wurden. Der Gott faßte nun mit ſeiner wunderbar in
die Höhe reichenden Hand den Gipfel eines Tannenbau¬
mes, beugte ihn hernieder, wie man einen Weidenzweig
biegt, ſetzte den wahnſinnigen Pentheus darauf, und ließ
den Baum ſachte und vorſichtig allmählig wieder in ſeine
vorige Lage zurückkehren. Wie durch ein Wunder blieb
der König feſt ſitzen und erſchien auf einmal, hoch auf
dem Tannenwipfel hingepflanzt, den Bacchantinnen im
Thale, ohne daß er ſie erblickte. Dann rief Dionyſos
mit lauter Stimme ins Thal hinab: „Ihr Mägde, ſchauet
hier den, der unſere heiligen Feſte verſpottet; beſtrafet
ihn!“ Der Aether ſchwieg, kein Blatt im Walde regte ſich,
kein Schrei eines Wildes ertönte. Auf richteten ſich
die Bacchantinnen, ſperrten ihre Augenſterne weit auf, und
horchten auf der Stimme Hall, die zum zweitenmal er¬
tönte. Als ſie in dem Wort ihren Meiſter erkannt,
ſchoſſen ſie dahin, ſchneller denn Tauben; wilder Wahnſinn,
vom Gotte geſandt, trieb ſie mitten durch die angeſchwol¬
lenen Waldbäche. Endlich waren ſie nahe genug gekom¬
men, um ihren Herrn und Verfolger auf dem Tannenwi¬
pfel ſitzen zu ſehen. Schnell flogen Kieſel, abgeriſſene
Tannenäſte, Thyrſusſtäbe gegen den Unglücklichen empor,
ohne die Höhe zu erreichen, in der er zitternd ſchwebte.

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[56/0082] langte und erhielt einen Thyrſusſtab, und ſtürmte in Ra¬ ſerei dahin. So gelangten ſie in ein tiefes, quellenrei¬ ches, von Fichten beſchattetes Thal, wo die Bacchus¬ prieſterinnen ihrem Gotte Hymnen ſangen, andere ihre Thyrſusſtäbe mit friſchem Epheu bekleideten. Des Pen¬ theus Augen aber waren mit Blindheit geſchlagen, oder ſein Führer Bacchus hatte ihn ſo zu leiten gewußt, daß ſie die Verſammlung der begeiſterten Frauen nicht gewahr wurden. Der Gott faßte nun mit ſeiner wunderbar in die Höhe reichenden Hand den Gipfel eines Tannenbau¬ mes, beugte ihn hernieder, wie man einen Weidenzweig biegt, ſetzte den wahnſinnigen Pentheus darauf, und ließ den Baum ſachte und vorſichtig allmählig wieder in ſeine vorige Lage zurückkehren. Wie durch ein Wunder blieb der König feſt ſitzen und erſchien auf einmal, hoch auf dem Tannenwipfel hingepflanzt, den Bacchantinnen im Thale, ohne daß er ſie erblickte. Dann rief Dionyſos mit lauter Stimme ins Thal hinab: „Ihr Mägde, ſchauet hier den, der unſere heiligen Feſte verſpottet; beſtrafet ihn!“ Der Aether ſchwieg, kein Blatt im Walde regte ſich, kein Schrei eines Wildes ertönte. Auf richteten ſich die Bacchantinnen, ſperrten ihre Augenſterne weit auf, und horchten auf der Stimme Hall, die zum zweitenmal er¬ tönte. Als ſie in dem Wort ihren Meiſter erkannt, ſchoſſen ſie dahin, ſchneller denn Tauben; wilder Wahnſinn, vom Gotte geſandt, trieb ſie mitten durch die angeſchwol¬ lenen Waldbäche. Endlich waren ſie nahe genug gekom¬ men, um ihren Herrn und Verfolger auf dem Tannenwi¬ pfel ſitzen zu ſehen. Schnell flogen Kieſel, abgeriſſene Tannenäſte, Thyrſusſtäbe gegen den Unglücklichen empor, ohne die Höhe zu erreichen, in der er zitternd ſchwebte.

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/82>, abgerufen am 21.11.2024.