Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

nem Seufzer, kennt die Ursache meiner Kinderlosigkeit;
er allein kann mir helfen." -- "So bist du kinderlos,
Unglückliche?" sagte betrübt der Jüngling. "Ich bin es
längst, erwiederte Kreusa, und ich muß deine Mutter be¬
neiden, guter Jüngling, die sich eines so holdseligen Soh¬
nes erfreut." -- "Ich weiß nichts von einer Mutter und
von einem Vater, gab der junge Mann betrübt zur Ant¬
wort, ich lag nie an eines Weibes Brust; ich weiß auch
nicht, wie ich hierher gekommen bin, nur so viel weiß ich
aus dem Munde meiner Pflegemutter, der Priesterin die¬
ses Tempels, daß sie sich meiner erbarmt und mich groß
gezogen hat; das Haus des Gottes ist seitdem meine
Wohnung und ich bin sein Knecht." Bei diesen Mitthei¬
lungen wurde die Fürstin sehr nachdenklich, doch drängte
sie ihre Gedanken in die Brust zurück und sprach die trau¬
rigen Worte: "Mein Sohn, ich kenne eine Frau, der
es gegangen ist, wie deiner Mutter, um ihretwillen bin
ich hierher gekommen und soll das Orakel befragen. So
will ich denn dir, als dem Diener des Gottes, ihr Geheim¬
niß anvertrauen, bevor ihr jetziger Gatte, der diese Wall¬
fahrt auch gemacht, aber unterwegs abgelenkt hat, um
das Orakel des Trophonius zu hören, den Tempel be¬
tritt. Jene Frau behauptet, vor ihrer jetzigen Ehe mit
dem großen Gotte Phöbus Apollo vermählt gewesen zu
seyn und ihm ohne Wissen ihres Vaters einen Sohn ge¬
boren zu haben. Diesen setzte sie aus, und weiß seitdem
nichts mehr von ihm, nicht, ob er das Sonnenlicht schaut
oder nicht. Ueber sein Leben oder seinen Tod den Gott
auszuforschen, bin ich im Namen meiner Freundin hier¬
her gekommen." -- "Wie lang ist es her, daß der Kna¬
be todt ist?" fragte der Jüngling. -- "Wenn er noch

nem Seufzer, kennt die Urſache meiner Kinderloſigkeit;
er allein kann mir helfen.“ — „So biſt du kinderlos,
Unglückliche?“ ſagte betrübt der Jüngling. „Ich bin es
längſt, erwiederte Krëuſa, und ich muß deine Mutter be¬
neiden, guter Jüngling, die ſich eines ſo holdſeligen Soh¬
nes erfreut.“ — „Ich weiß nichts von einer Mutter und
von einem Vater, gab der junge Mann betrübt zur Ant¬
wort, ich lag nie an eines Weibes Bruſt; ich weiß auch
nicht, wie ich hierher gekommen bin, nur ſo viel weiß ich
aus dem Munde meiner Pflegemutter, der Prieſterin die¬
ſes Tempels, daß ſie ſich meiner erbarmt und mich groß
gezogen hat; das Haus des Gottes iſt ſeitdem meine
Wohnung und ich bin ſein Knecht.“ Bei dieſen Mitthei¬
lungen wurde die Fürſtin ſehr nachdenklich, doch drängte
ſie ihre Gedanken in die Bruſt zurück und ſprach die trau¬
rigen Worte: „Mein Sohn, ich kenne eine Frau, der
es gegangen iſt, wie deiner Mutter, um ihretwillen bin
ich hierher gekommen und ſoll das Orakel befragen. So
will ich denn dir, als dem Diener des Gottes, ihr Geheim¬
niß anvertrauen, bevor ihr jetziger Gatte, der dieſe Wall¬
fahrt auch gemacht, aber unterwegs abgelenkt hat, um
das Orakel des Trophonius zu hören, den Tempel be¬
tritt. Jene Frau behauptet, vor ihrer jetzigen Ehe mit
dem großen Gotte Phöbus Apollo vermählt geweſen zu
ſeyn und ihm ohne Wiſſen ihres Vaters einen Sohn ge¬
boren zu haben. Dieſen ſetzte ſie aus, und weiß ſeitdem
nichts mehr von ihm, nicht, ob er das Sonnenlicht ſchaut
oder nicht. Ueber ſein Leben oder ſeinen Tod den Gott
auszuforſchen, bin ich im Namen meiner Freundin hier¬
her gekommen.“ — „Wie lang iſt es her, daß der Kna¬
be todt iſt?“ fragte der Jüngling. — „Wenn er noch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0097" n="71"/>
nem Seufzer, kennt die Ur&#x017F;ache meiner Kinderlo&#x017F;igkeit;<lb/>
er allein kann mir helfen.&#x201C; &#x2014; &#x201E;So bi&#x017F;t du kinderlos,<lb/>
Unglückliche?&#x201C; &#x017F;agte betrübt der Jüngling. &#x201E;Ich bin es<lb/>
läng&#x017F;t, erwiederte Kr<hi rendition="#aq">ë</hi>u&#x017F;a, und ich muß deine Mutter be¬<lb/>
neiden, guter Jüngling, die &#x017F;ich eines &#x017F;o hold&#x017F;eligen Soh¬<lb/>
nes erfreut.&#x201C; &#x2014; &#x201E;Ich weiß nichts von einer Mutter und<lb/>
von einem Vater, gab der junge Mann betrübt zur Ant¬<lb/>
wort, ich lag nie an eines Weibes Bru&#x017F;t; ich weiß auch<lb/>
nicht, wie ich hierher gekommen bin, nur &#x017F;o viel weiß ich<lb/>
aus dem Munde meiner Pflegemutter, der Prie&#x017F;terin die¬<lb/>
&#x017F;es Tempels, daß &#x017F;ie &#x017F;ich meiner erbarmt und mich groß<lb/>
gezogen hat; das Haus des Gottes i&#x017F;t &#x017F;eitdem meine<lb/>
Wohnung und ich bin &#x017F;ein Knecht.&#x201C; Bei die&#x017F;en Mitthei¬<lb/>
lungen wurde die Für&#x017F;tin &#x017F;ehr nachdenklich, doch drängte<lb/>
&#x017F;ie ihre Gedanken in die Bru&#x017F;t zurück und &#x017F;prach die trau¬<lb/>
rigen Worte: &#x201E;Mein Sohn, ich kenne eine Frau, der<lb/>
es gegangen i&#x017F;t, wie deiner Mutter, um ihretwillen bin<lb/>
ich hierher gekommen und &#x017F;oll das Orakel befragen. So<lb/>
will ich denn dir, als dem Diener des Gottes, ihr Geheim¬<lb/>
niß anvertrauen, bevor ihr jetziger Gatte, der die&#x017F;e Wall¬<lb/>
fahrt auch gemacht, aber unterwegs abgelenkt hat, um<lb/>
das Orakel des Trophonius zu hören, den Tempel be¬<lb/>
tritt. Jene Frau behauptet, vor ihrer jetzigen Ehe mit<lb/>
dem großen Gotte Phöbus Apollo vermählt gewe&#x017F;en zu<lb/>
&#x017F;eyn und ihm ohne Wi&#x017F;&#x017F;en ihres Vaters einen Sohn ge¬<lb/>
boren zu haben. Die&#x017F;en &#x017F;etzte &#x017F;ie aus, und weiß &#x017F;eitdem<lb/>
nichts mehr von ihm, nicht, ob er das Sonnenlicht &#x017F;chaut<lb/>
oder nicht. Ueber &#x017F;ein Leben oder &#x017F;einen Tod den Gott<lb/>
auszufor&#x017F;chen, bin ich im Namen meiner Freundin hier¬<lb/>
her gekommen.&#x201C; &#x2014; &#x201E;Wie lang i&#x017F;t es her, daß der Kna¬<lb/>
be todt i&#x017F;t?&#x201C; fragte der Jüngling. &#x2014; &#x201E;Wenn er noch<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[71/0097] nem Seufzer, kennt die Urſache meiner Kinderloſigkeit; er allein kann mir helfen.“ — „So biſt du kinderlos, Unglückliche?“ ſagte betrübt der Jüngling. „Ich bin es längſt, erwiederte Krëuſa, und ich muß deine Mutter be¬ neiden, guter Jüngling, die ſich eines ſo holdſeligen Soh¬ nes erfreut.“ — „Ich weiß nichts von einer Mutter und von einem Vater, gab der junge Mann betrübt zur Ant¬ wort, ich lag nie an eines Weibes Bruſt; ich weiß auch nicht, wie ich hierher gekommen bin, nur ſo viel weiß ich aus dem Munde meiner Pflegemutter, der Prieſterin die¬ ſes Tempels, daß ſie ſich meiner erbarmt und mich groß gezogen hat; das Haus des Gottes iſt ſeitdem meine Wohnung und ich bin ſein Knecht.“ Bei dieſen Mitthei¬ lungen wurde die Fürſtin ſehr nachdenklich, doch drängte ſie ihre Gedanken in die Bruſt zurück und ſprach die trau¬ rigen Worte: „Mein Sohn, ich kenne eine Frau, der es gegangen iſt, wie deiner Mutter, um ihretwillen bin ich hierher gekommen und ſoll das Orakel befragen. So will ich denn dir, als dem Diener des Gottes, ihr Geheim¬ niß anvertrauen, bevor ihr jetziger Gatte, der dieſe Wall¬ fahrt auch gemacht, aber unterwegs abgelenkt hat, um das Orakel des Trophonius zu hören, den Tempel be¬ tritt. Jene Frau behauptet, vor ihrer jetzigen Ehe mit dem großen Gotte Phöbus Apollo vermählt geweſen zu ſeyn und ihm ohne Wiſſen ihres Vaters einen Sohn ge¬ boren zu haben. Dieſen ſetzte ſie aus, und weiß ſeitdem nichts mehr von ihm, nicht, ob er das Sonnenlicht ſchaut oder nicht. Ueber ſein Leben oder ſeinen Tod den Gott auszuforſchen, bin ich im Namen meiner Freundin hier¬ her gekommen.“ — „Wie lang iſt es her, daß der Kna¬ be todt iſt?“ fragte der Jüngling. — „Wenn er noch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/97
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/97>, abgerufen am 21.11.2024.