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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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lebte, so hätte er dein Alter, o Knabe," sprach Kreusa.
"O wie ähnlich ist das Schicksal deiner Freundin und
das meine," rief mit dem Ausdrucke des Schmerzens der
junge Mann; "sie sucht ihren Sohn und ich suche meine
Mutter. Doch ist, was ihr geschehen ist, fern von diesem
Lande geschehen, und leider sind wir beide einander ganz
fremd. Hoffe auch nicht, daß der Gott von seinem Drei¬
fuße dir die gewünschte Antwort ertheilen wird. Bist du
doch gekommen, ihn im Namen deiner Freundin einer
Treulosigkeit anzuklagen; er wird nicht über sich selbst
Richter seyn wollen!" "Halt ein, Jüngling," rief jetzt
Kreusa, "dort sehe ich den Gatten jener Frau herannahen;
laß dir nichts von dem merken, was ich dir, vielleicht
allzu vertraulich, vorgeplaudert habe."

Xuthus kam fröhlich in den Tempel und auf seine
Gemahlin zugeschritten. "Frau," rief er ihr entgegen,
"Trophonius hat einen glücklichen Ausspruch gethan:
ich soll nicht ohne Kinder von hinnen ziehen! Aber sage
mir, wer ist dieser junge Prophet des Gottes?" Der
Jüngling trat dem Fürsten bescheiden entgegen und er¬
zählte ihm, wie er nur der Tempeldiener Apollo's sey, und
im innersten Heiligthume die vornehmsten Delphier selbst,
durchs Loos ausgewählt, den Dreifuß umlagern, von dem
jetzt eben die Priesterin Orakel zu geben bereit sey. Als
der Fürst dieses hörte, befahl er Kreusen, sich mit den
Zweigen zu schmücken, welche Bittflehende zu tragen pfle¬
gen, und an dem Altare des Gottes, der mit Lorbeer
umwunden unter freiem Himmel stand, zu Apollo zu be¬
ten, daß er ihnen ein günstiges Orakel senden möge. Er
selbst eilte nach dem Heiligthume des Tempels, indeß der
junge Schatzmeister des Gottes im Vorhofe seine Wache

lebte, ſo hätte er dein Alter, o Knabe,“ ſprach Krëuſa.
„O wie ähnlich iſt das Schickſal deiner Freundin und
das meine,“ rief mit dem Ausdrucke des Schmerzens der
junge Mann; „ſie ſucht ihren Sohn und ich ſuche meine
Mutter. Doch iſt, was ihr geſchehen iſt, fern von dieſem
Lande geſchehen, und leider ſind wir beide einander ganz
fremd. Hoffe auch nicht, daß der Gott von ſeinem Drei¬
fuße dir die gewünſchte Antwort ertheilen wird. Biſt du
doch gekommen, ihn im Namen deiner Freundin einer
Treuloſigkeit anzuklagen; er wird nicht über ſich ſelbſt
Richter ſeyn wollen!“ „Halt ein, Jüngling,“ rief jetzt
Krëuſa, „dort ſehe ich den Gatten jener Frau herannahen;
laß dir nichts von dem merken, was ich dir, vielleicht
allzu vertraulich, vorgeplaudert habe.“

Xuthus kam fröhlich in den Tempel und auf ſeine
Gemahlin zugeſchritten. „Frau,“ rief er ihr entgegen,
„Trophonius hat einen glücklichen Ausſpruch gethan:
ich ſoll nicht ohne Kinder von hinnen ziehen! Aber ſage
mir, wer iſt dieſer junge Prophet des Gottes?“ Der
Jüngling trat dem Fürſten beſcheiden entgegen und er¬
zählte ihm, wie er nur der Tempeldiener Apollo's ſey, und
im innerſten Heiligthume die vornehmſten Delphier ſelbſt,
durchs Loos ausgewählt, den Dreifuß umlagern, von dem
jetzt eben die Prieſterin Orakel zu geben bereit ſey. Als
der Fürſt dieſes hörte, befahl er Krëuſen, ſich mit den
Zweigen zu ſchmücken, welche Bittflehende zu tragen pfle¬
gen, und an dem Altare des Gottes, der mit Lorbeer
umwunden unter freiem Himmel ſtand, zu Apollo zu be¬
ten, daß er ihnen ein günſtiges Orakel ſenden möge. Er
ſelbſt eilte nach dem Heiligthume des Tempels, indeß der
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[72/0098] lebte, ſo hätte er dein Alter, o Knabe,“ ſprach Krëuſa. „O wie ähnlich iſt das Schickſal deiner Freundin und das meine,“ rief mit dem Ausdrucke des Schmerzens der junge Mann; „ſie ſucht ihren Sohn und ich ſuche meine Mutter. Doch iſt, was ihr geſchehen iſt, fern von dieſem Lande geſchehen, und leider ſind wir beide einander ganz fremd. Hoffe auch nicht, daß der Gott von ſeinem Drei¬ fuße dir die gewünſchte Antwort ertheilen wird. Biſt du doch gekommen, ihn im Namen deiner Freundin einer Treuloſigkeit anzuklagen; er wird nicht über ſich ſelbſt Richter ſeyn wollen!“ „Halt ein, Jüngling,“ rief jetzt Krëuſa, „dort ſehe ich den Gatten jener Frau herannahen; laß dir nichts von dem merken, was ich dir, vielleicht allzu vertraulich, vorgeplaudert habe.“ Xuthus kam fröhlich in den Tempel und auf ſeine Gemahlin zugeſchritten. „Frau,“ rief er ihr entgegen, „Trophonius hat einen glücklichen Ausſpruch gethan: ich ſoll nicht ohne Kinder von hinnen ziehen! Aber ſage mir, wer iſt dieſer junge Prophet des Gottes?“ Der Jüngling trat dem Fürſten beſcheiden entgegen und er¬ zählte ihm, wie er nur der Tempeldiener Apollo's ſey, und im innerſten Heiligthume die vornehmſten Delphier ſelbſt, durchs Loos ausgewählt, den Dreifuß umlagern, von dem jetzt eben die Prieſterin Orakel zu geben bereit ſey. Als der Fürſt dieſes hörte, befahl er Krëuſen, ſich mit den Zweigen zu ſchmücken, welche Bittflehende zu tragen pfle¬ gen, und an dem Altare des Gottes, der mit Lorbeer umwunden unter freiem Himmel ſtand, zu Apollo zu be¬ ten, daß er ihnen ein günſtiges Orakel ſenden möge. Er ſelbſt eilte nach dem Heiligthume des Tempels, indeß der junge Schatzmeiſter des Gottes im Vorhofe ſeine Wache

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/98>, abgerufen am 21.11.2024.