Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

Bild:
<< vorherige Seite

gekleidet, den Bogen um die Schultern gehängt, sein
Schwert an der Seite, und indem er zwo spitze Lan¬
zen schwenkte, forderte er den tapfersten aller Griechen
heraus, mit ihm den Zweikampf zu wagen. Als diesen
Menelaus aus den sich heranwälzenden Schaaren hervor¬
springen sah, freute er sich, wie ein hungriger Löwe, dem
eine ansehnliche Beute, ein Gemsbock oder ein Hirsch, in
den Weg kommt, und schnell sprang er in voller Rüstung
von seinem Wagen zur Erde herab, den frevelhaften
Dieb seines Hauses zu bestrafen. Dem Paris aber graute
beim Anblick eines solchen Gegners und er entzog sich dem
Kampfe erblassend und ins Gedränge seiner Landsleute
zurückfahrend, als hätte er eine Natter gesehen. Als ihn
Hektor so in die Menge der Trojaner zurücktauchen sah,
rief er ihm voll Unmuth zu: "Bruder, du bist doch nur
von Gestalt ein Held, in Wahrheit aber nichts, als ein
weibischer schlauer Verführer. Wärest du lieber gestorben,
ehe du um Helena gebuhlt! Siehst du nicht, wie die
Griechen ein Gelächter erheben, daß du es nicht wagest,
dem Manne Stand zu halten, dem du die Gattin gestoh¬
len hast? Du wärest werth zu erfahren, an welchem
Manne du dich versündigt, und ich würde dich nicht
bemitleiden, wenn du dich verwundet auf dem Boden wälz¬
test und der Staub dein zierliches Lockenhaar besudelte."
Paris antwortete ihm: "Hektor, dein Herz ist hart und
dein Muth unwiderstehlich, wie eine Axt aus Erz, mit der
der Schiffszimmermann Balken behaut, und du tadelst
mich nicht mit Unrecht; aber schilt mir nicht meine Schön¬
heit, denn sie ist auch eine Gabe der Unsterblichen. Wenn
du mich aber jetzt kämpfen sehen willst, so heiß Trojaner
und Griechen ruhen; dann will ich um Helena und alle

gekleidet, den Bogen um die Schultern gehängt, ſein
Schwert an der Seite, und indem er zwo ſpitze Lan¬
zen ſchwenkte, forderte er den tapferſten aller Griechen
heraus, mit ihm den Zweikampf zu wagen. Als dieſen
Menelaus aus den ſich heranwälzenden Schaaren hervor¬
ſpringen ſah, freute er ſich, wie ein hungriger Löwe, dem
eine anſehnliche Beute, ein Gemsbock oder ein Hirſch, in
den Weg kommt, und ſchnell ſprang er in voller Rüſtung
von ſeinem Wagen zur Erde herab, den frevelhaften
Dieb ſeines Hauſes zu beſtrafen. Dem Paris aber graute
beim Anblick eines ſolchen Gegners und er entzog ſich dem
Kampfe erblaſſend und ins Gedränge ſeiner Landsleute
zurückfahrend, als hätte er eine Natter geſehen. Als ihn
Hektor ſo in die Menge der Trojaner zurücktauchen ſah,
rief er ihm voll Unmuth zu: „Bruder, du biſt doch nur
von Geſtalt ein Held, in Wahrheit aber nichts, als ein
weibiſcher ſchlauer Verführer. Wäreſt du lieber geſtorben,
ehe du um Helena gebuhlt! Siehſt du nicht, wie die
Griechen ein Gelächter erheben, daß du es nicht wageſt,
dem Manne Stand zu halten, dem du die Gattin geſtoh¬
len haſt? Du wäreſt werth zu erfahren, an welchem
Manne du dich verſündigt, und ich würde dich nicht
bemitleiden, wenn du dich verwundet auf dem Boden wälz¬
teſt und der Staub dein zierliches Lockenhaar beſudelte.“
Paris antwortete ihm: „Hektor, dein Herz iſt hart und
dein Muth unwiderſtehlich, wie eine Axt aus Erz, mit der
der Schiffszimmermann Balken behaut, und du tadelſt
mich nicht mit Unrecht; aber ſchilt mir nicht meine Schön¬
heit, denn ſie iſt auch eine Gabe der Unſterblichen. Wenn
du mich aber jetzt kämpfen ſehen willſt, ſo heiß Trojaner
und Griechen ruhen; dann will ich um Helena und alle

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0123" n="101"/>
gekleidet, den Bogen um die Schultern gehängt, &#x017F;ein<lb/>
Schwert an der Seite, und indem er zwo &#x017F;pitze Lan¬<lb/>
zen &#x017F;chwenkte, forderte er den tapfer&#x017F;ten aller Griechen<lb/>
heraus, mit ihm den Zweikampf zu wagen. Als die&#x017F;en<lb/>
Menelaus aus den &#x017F;ich heranwälzenden Schaaren hervor¬<lb/>
&#x017F;pringen &#x017F;ah, freute er &#x017F;ich, wie ein hungriger Löwe, dem<lb/>
eine an&#x017F;ehnliche Beute, ein Gemsbock oder ein Hir&#x017F;ch, in<lb/>
den Weg kommt, und &#x017F;chnell &#x017F;prang er in voller Rü&#x017F;tung<lb/>
von &#x017F;einem Wagen zur Erde herab, den frevelhaften<lb/>
Dieb &#x017F;eines Hau&#x017F;es zu be&#x017F;trafen. Dem Paris aber graute<lb/>
beim Anblick eines &#x017F;olchen Gegners und er entzog &#x017F;ich dem<lb/>
Kampfe erbla&#x017F;&#x017F;end und ins Gedränge &#x017F;einer Landsleute<lb/>
zurückfahrend, als hätte er eine Natter ge&#x017F;ehen. Als ihn<lb/>
Hektor &#x017F;o in die Menge der Trojaner zurücktauchen &#x017F;ah,<lb/>
rief er ihm voll Unmuth zu: &#x201E;Bruder, du bi&#x017F;t doch nur<lb/>
von Ge&#x017F;talt ein Held, in Wahrheit aber nichts, als ein<lb/>
weibi&#x017F;cher &#x017F;chlauer Verführer. Wäre&#x017F;t du lieber ge&#x017F;torben,<lb/>
ehe du um Helena gebuhlt! Sieh&#x017F;t du nicht, wie die<lb/>
Griechen ein Gelächter erheben, daß du es nicht wage&#x017F;t,<lb/>
dem Manne Stand zu halten, dem du die Gattin ge&#x017F;toh¬<lb/>
len ha&#x017F;t? Du wäre&#x017F;t werth zu erfahren, an welchem<lb/>
Manne du dich ver&#x017F;ündigt, und ich würde dich nicht<lb/>
bemitleiden, wenn du dich verwundet auf dem Boden wälz¬<lb/>
te&#x017F;t und der Staub dein zierliches Lockenhaar be&#x017F;udelte.&#x201C;<lb/>
Paris antwortete ihm: &#x201E;Hektor, dein Herz i&#x017F;t hart und<lb/>
dein Muth unwider&#x017F;tehlich, wie eine Axt aus Erz, mit der<lb/>
der Schiffszimmermann Balken behaut, und du tadel&#x017F;t<lb/>
mich nicht mit Unrecht; aber &#x017F;chilt mir nicht meine Schön¬<lb/>
heit, denn &#x017F;ie i&#x017F;t auch eine Gabe der Un&#x017F;terblichen. Wenn<lb/>
du mich aber jetzt kämpfen &#x017F;ehen will&#x017F;t, &#x017F;o heiß Trojaner<lb/>
und Griechen ruhen; dann will ich um Helena und alle<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[101/0123] gekleidet, den Bogen um die Schultern gehängt, ſein Schwert an der Seite, und indem er zwo ſpitze Lan¬ zen ſchwenkte, forderte er den tapferſten aller Griechen heraus, mit ihm den Zweikampf zu wagen. Als dieſen Menelaus aus den ſich heranwälzenden Schaaren hervor¬ ſpringen ſah, freute er ſich, wie ein hungriger Löwe, dem eine anſehnliche Beute, ein Gemsbock oder ein Hirſch, in den Weg kommt, und ſchnell ſprang er in voller Rüſtung von ſeinem Wagen zur Erde herab, den frevelhaften Dieb ſeines Hauſes zu beſtrafen. Dem Paris aber graute beim Anblick eines ſolchen Gegners und er entzog ſich dem Kampfe erblaſſend und ins Gedränge ſeiner Landsleute zurückfahrend, als hätte er eine Natter geſehen. Als ihn Hektor ſo in die Menge der Trojaner zurücktauchen ſah, rief er ihm voll Unmuth zu: „Bruder, du biſt doch nur von Geſtalt ein Held, in Wahrheit aber nichts, als ein weibiſcher ſchlauer Verführer. Wäreſt du lieber geſtorben, ehe du um Helena gebuhlt! Siehſt du nicht, wie die Griechen ein Gelächter erheben, daß du es nicht wageſt, dem Manne Stand zu halten, dem du die Gattin geſtoh¬ len haſt? Du wäreſt werth zu erfahren, an welchem Manne du dich verſündigt, und ich würde dich nicht bemitleiden, wenn du dich verwundet auf dem Boden wälz¬ teſt und der Staub dein zierliches Lockenhaar beſudelte.“ Paris antwortete ihm: „Hektor, dein Herz iſt hart und dein Muth unwiderſtehlich, wie eine Axt aus Erz, mit der der Schiffszimmermann Balken behaut, und du tadelſt mich nicht mit Unrecht; aber ſchilt mir nicht meine Schön¬ heit, denn ſie iſt auch eine Gabe der Unſterblichen. Wenn du mich aber jetzt kämpfen ſehen willſt, ſo heiß Trojaner und Griechen ruhen; dann will ich um Helena und alle

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/123
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/123>, abgerufen am 24.11.2024.