Troja; sie Alle ruhten zwar in ihrem hohen Alter vom Kriege aus; in der Rathsversammlung aber war ihr Wort das tüchtigste. Als diese von der Höhe des Thur¬ mes Helena herankommen sahen, flüsterten die Greise, die Gestalt der Fürstin bestaunend, einander leise zu: "für¬ wahr, Niemand soll Trojaner und Griechen tadeln, daß sie für ein solches Weib so lange im Elend ausharren. Gleicht sie doch einer unsterblichen Göttin an Herrlichkeit! Aber auch mit solcher Gestalt mag sie immerhin auf den Schiffen der Danaer heimkehren, damit uns und unsern Söhnen nicht der Schaden zurückbleibe!" Priamus aber rief Helena liebreich herbei: "Komm näher heran," sprach er, "mein Töchterchen, setze dich zu mir her, ich will dir deinen ersten Gemahl, deine Freunde und deine Verwand¬ ten zu schauen geben; du bist mir nicht Schuld an diesem jammervollen Kriege; die Götter sind es, die ihn mir zu¬ gesendet haben. Nenne mir denn jenes gewaltigen Man¬ nes Namen, der dort so groß und herrlich über alle Danaer hervorprangt; an Haupt überragen ihn zwar hier und da noch größere Männer in dem Heere, aber von so königlicher Gestalt habe ich doch noch keinen unter ihnen gesehen."
Ehrfurchtsvoll entgegnete Helena dem Könige: "Theu¬ rer Schwiegervater, Scheu und Furcht bewegen mich, in¬ dem ich dir nahe. Mir wäre der bitterste Tod besser gewesen, als daß ich, Heimath, Tochter und Freunde ver¬ lassend, deinem Sohne hierher gefolgt bin. In Thränen möchte ich zerfließen, daß es geschah! Nun aber höre: der dort, nach dem du fragst, ist Agamemnon, der treff¬ lichste König und ein tapferer Krieger; er war, ach er war dereinst mein Schwager!" "Glücklicher Atride," rief
Troja; ſie Alle ruhten zwar in ihrem hohen Alter vom Kriege aus; in der Rathsverſammlung aber war ihr Wort das tüchtigſte. Als dieſe von der Höhe des Thur¬ mes Helena herankommen ſahen, flüſterten die Greiſe, die Geſtalt der Fürſtin beſtaunend, einander leiſe zu: „für¬ wahr, Niemand ſoll Trojaner und Griechen tadeln, daß ſie für ein ſolches Weib ſo lange im Elend ausharren. Gleicht ſie doch einer unſterblichen Göttin an Herrlichkeit! Aber auch mit ſolcher Geſtalt mag ſie immerhin auf den Schiffen der Danaer heimkehren, damit uns und unſern Söhnen nicht der Schaden zurückbleibe!“ Priamus aber rief Helena liebreich herbei: „Komm näher heran,“ ſprach er, „mein Töchterchen, ſetze dich zu mir her, ich will dir deinen erſten Gemahl, deine Freunde und deine Verwand¬ ten zu ſchauen geben; du biſt mir nicht Schuld an dieſem jammervollen Kriege; die Götter ſind es, die ihn mir zu¬ geſendet haben. Nenne mir denn jenes gewaltigen Man¬ nes Namen, der dort ſo groß und herrlich über alle Danaer hervorprangt; an Haupt überragen ihn zwar hier und da noch größere Männer in dem Heere, aber von ſo königlicher Geſtalt habe ich doch noch keinen unter ihnen geſehen.“
Ehrfurchtsvoll entgegnete Helena dem Könige: „Theu¬ rer Schwiegervater, Scheu und Furcht bewegen mich, in¬ dem ich dir nahe. Mir wäre der bitterſte Tod beſſer geweſen, als daß ich, Heimath, Tochter und Freunde ver¬ laſſend, deinem Sohne hierher gefolgt bin. In Thränen möchte ich zerfließen, daß es geſchah! Nun aber höre: der dort, nach dem du fragſt, iſt Agamemnon, der treff¬ lichſte König und ein tapferer Krieger; er war, ach er war dereinſt mein Schwager!“ „Glücklicher Atride,“ rief
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Troja; ſie Alle ruhten zwar in ihrem hohen Alter vom
Kriege aus; in der Rathsverſammlung aber war ihr
Wort das tüchtigſte. Als dieſe von der Höhe des Thur¬
mes Helena herankommen ſahen, flüſterten die Greiſe, die
Geſtalt der Fürſtin beſtaunend, einander leiſe zu: „für¬
wahr, Niemand ſoll Trojaner und Griechen tadeln, daß
ſie für ein ſolches Weib ſo lange im Elend ausharren.
Gleicht ſie doch einer unſterblichen Göttin an Herrlichkeit!
Aber auch mit ſolcher Geſtalt mag ſie immerhin auf den
Schiffen der Danaer heimkehren, damit uns und unſern
Söhnen nicht der Schaden zurückbleibe!“ Priamus aber
rief Helena liebreich herbei: „Komm näher heran,“ ſprach
er, „mein Töchterchen, ſetze dich zu mir her, ich will dir
deinen erſten Gemahl, deine Freunde und deine Verwand¬
ten zu ſchauen geben; du biſt mir nicht Schuld an dieſem
jammervollen Kriege; die Götter ſind es, die ihn mir zu¬
geſendet haben. Nenne mir denn jenes gewaltigen Man¬
nes Namen, der dort ſo groß und herrlich über alle
Danaer hervorprangt; an Haupt überragen ihn zwar hier
und da noch größere Männer in dem Heere, aber von ſo
königlicher Geſtalt habe ich doch noch keinen unter ihnen
geſehen.“
Ehrfurchtsvoll entgegnete Helena dem Könige: „Theu¬
rer Schwiegervater, Scheu und Furcht bewegen mich, in¬
dem ich dir nahe. Mir wäre der bitterſte Tod beſſer
geweſen, als daß ich, Heimath, Tochter und Freunde ver¬
laſſend, deinem Sohne hierher gefolgt bin. In Thränen
möchte ich zerfließen, daß es geſchah! Nun aber höre:
der dort, nach dem du fragſt, iſt Agamemnon, der treff¬
lichſte König und ein tapferer Krieger; er war, ach er
war dereinſt mein Schwager!“ „Glücklicher Atride,“ rief
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/126>, abgerufen am 21.11.2024.
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