Zügel an, die Helden sprangen von den Streitwagen, zogen die Rüstungen aus und legten sie, Feinde ganz nahe an Feinden, auf die Erde nieder. Hektor sandte eilig zween Herolde nach Troja, die Opferlämmer zu bringen und den König Priamus herbeizurufen, auch der König Agamemnon schickte den Herold Talthybius zu den Schif¬ fen, ein Lamm zu holen. Die Götterbotin Iris aber, in Priamus Tochter Laodice umgestaltet, eilte, die Botschaft der Fürstin Helena in die Stadt zu bringen. Sie fand sie am Webestuhl, ein köstliches Gewand mit den Kämpfen der Trojaner und Griechen durchwirkend, die Augen auf ihre Arbeit geheftet. "Komm doch heraus, trautes Kind," rief sie ihr zu, "du sollst etwas Seltsames schauen! Die Trojaner und Griechen, die noch eben voll Ingrimms zur Feldschlacht gegen einander heranrückten, ruhen stillschwei¬ gend, auf die Schilde hingelehnt, die Speere in den Bo¬ den gesteckt, einander gegenüber; aller Krieg ist beendigt; nur deine Gatten Alexander und Menelaus werden mit der Lanze um dich kämpfen, und wer seinen Gegner be¬ siegt, trägt dich als Gemahlin davon!"
So sprach die Göttin und erfüllte das Herz Helena's mit Sehnsucht nach ihrem Jugendgemahl Menelaus, nach der Heimath und nach den Freunden. Sie hüllte sich schnell in einen silberweißen Schleier, in welchen sie die Thräne verbarg, die ihr an den Wimpern hing, und eilte, von Aethra und Klymene, zweien ihren Dienerinnen ge¬ folgt, nach dem Skäischen Thore. Hier saß auf den Zin¬ nen König Priamus mit den ältesten und verständigsten Greisen des trojanischen Volkes, Panthous, Thymötus, Lampus, Klytius, Hiketaon, Antenor und Ukalegon; die beiden Letztern waren die verständigsten Männer von
Zügel an, die Helden ſprangen von den Streitwagen, zogen die Rüſtungen aus und legten ſie, Feinde ganz nahe an Feinden, auf die Erde nieder. Hektor ſandte eilig zween Herolde nach Troja, die Opferlämmer zu bringen und den König Priamus herbeizurufen, auch der König Agamemnon ſchickte den Herold Talthybius zu den Schif¬ fen, ein Lamm zu holen. Die Götterbotin Iris aber, in Priamus Tochter Laodice umgeſtaltet, eilte, die Botſchaft der Fürſtin Helena in die Stadt zu bringen. Sie fand ſie am Webeſtuhl, ein köſtliches Gewand mit den Kämpfen der Trojaner und Griechen durchwirkend, die Augen auf ihre Arbeit geheftet. „Komm doch heraus, trautes Kind,“ rief ſie ihr zu, „du ſollſt etwas Seltſames ſchauen! Die Trojaner und Griechen, die noch eben voll Ingrimms zur Feldſchlacht gegen einander heranrückten, ruhen ſtillſchwei¬ gend, auf die Schilde hingelehnt, die Speere in den Bo¬ den geſteckt, einander gegenüber; aller Krieg iſt beendigt; nur deine Gatten Alexander und Menelaus werden mit der Lanze um dich kämpfen, und wer ſeinen Gegner be¬ ſiegt, trägt dich als Gemahlin davon!“
So ſprach die Göttin und erfüllte das Herz Helena's mit Sehnſucht nach ihrem Jugendgemahl Menelaus, nach der Heimath und nach den Freunden. Sie hüllte ſich ſchnell in einen ſilberweißen Schleier, in welchen ſie die Thräne verbarg, die ihr an den Wimpern hing, und eilte, von Aethra und Klymene, zweien ihren Dienerinnen ge¬ folgt, nach dem Skäiſchen Thore. Hier ſaß auf den Zin¬ nen König Priamus mit den älteſten und verſtändigſten Greiſen des trojaniſchen Volkes, Panthous, Thymötus, Lampus, Klytius, Hiketaon, Antenor und Ukalegon; die beiden Letztern waren die verſtändigſten Männer von
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0125"n="103"/>
Zügel an, die Helden ſprangen von den Streitwagen,<lb/>
zogen die Rüſtungen aus und legten ſie, Feinde ganz nahe<lb/>
an Feinden, auf die Erde nieder. Hektor ſandte eilig<lb/>
zween Herolde nach Troja, die Opferlämmer zu bringen<lb/>
und den König Priamus herbeizurufen, auch der König<lb/>
Agamemnon ſchickte den Herold Talthybius zu den Schif¬<lb/>
fen, ein Lamm zu holen. Die Götterbotin Iris aber, in<lb/>
Priamus Tochter Laodice umgeſtaltet, eilte, die Botſchaft<lb/>
der Fürſtin Helena in die Stadt zu bringen. Sie fand<lb/>ſie am Webeſtuhl, ein köſtliches Gewand mit den Kämpfen<lb/>
der Trojaner und Griechen durchwirkend, die Augen auf<lb/>
ihre Arbeit geheftet. „Komm doch heraus, trautes Kind,“<lb/>
rief ſie ihr zu, „du ſollſt etwas Seltſames ſchauen! Die<lb/>
Trojaner und Griechen, die noch eben voll Ingrimms zur<lb/>
Feldſchlacht gegen einander heranrückten, ruhen ſtillſchwei¬<lb/>
gend, auf die Schilde hingelehnt, die Speere in den Bo¬<lb/>
den geſteckt, einander gegenüber; aller Krieg iſt beendigt;<lb/>
nur deine Gatten Alexander und Menelaus werden mit<lb/>
der Lanze um dich kämpfen, und wer ſeinen Gegner be¬<lb/>ſiegt, trägt dich als Gemahlin davon!“</p><lb/><p>So ſprach die Göttin und erfüllte das Herz Helena's<lb/>
mit Sehnſucht nach ihrem Jugendgemahl Menelaus, nach<lb/>
der Heimath und nach den Freunden. Sie hüllte ſich<lb/>ſchnell in einen ſilberweißen Schleier, in welchen ſie die<lb/>
Thräne verbarg, die ihr an den Wimpern hing, und eilte,<lb/>
von Aethra und Klymene, zweien ihren Dienerinnen ge¬<lb/>
folgt, nach dem Skäiſchen Thore. Hier ſaß auf den Zin¬<lb/>
nen König Priamus mit den älteſten und verſtändigſten<lb/>
Greiſen des trojaniſchen Volkes, Panthous, Thymötus,<lb/>
Lampus, Klytius, Hiketaon, Antenor und Ukalegon; die<lb/>
beiden Letztern waren die verſtändigſten Männer von<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[103/0125]
Zügel an, die Helden ſprangen von den Streitwagen,
zogen die Rüſtungen aus und legten ſie, Feinde ganz nahe
an Feinden, auf die Erde nieder. Hektor ſandte eilig
zween Herolde nach Troja, die Opferlämmer zu bringen
und den König Priamus herbeizurufen, auch der König
Agamemnon ſchickte den Herold Talthybius zu den Schif¬
fen, ein Lamm zu holen. Die Götterbotin Iris aber, in
Priamus Tochter Laodice umgeſtaltet, eilte, die Botſchaft
der Fürſtin Helena in die Stadt zu bringen. Sie fand
ſie am Webeſtuhl, ein köſtliches Gewand mit den Kämpfen
der Trojaner und Griechen durchwirkend, die Augen auf
ihre Arbeit geheftet. „Komm doch heraus, trautes Kind,“
rief ſie ihr zu, „du ſollſt etwas Seltſames ſchauen! Die
Trojaner und Griechen, die noch eben voll Ingrimms zur
Feldſchlacht gegen einander heranrückten, ruhen ſtillſchwei¬
gend, auf die Schilde hingelehnt, die Speere in den Bo¬
den geſteckt, einander gegenüber; aller Krieg iſt beendigt;
nur deine Gatten Alexander und Menelaus werden mit
der Lanze um dich kämpfen, und wer ſeinen Gegner be¬
ſiegt, trägt dich als Gemahlin davon!“
So ſprach die Göttin und erfüllte das Herz Helena's
mit Sehnſucht nach ihrem Jugendgemahl Menelaus, nach
der Heimath und nach den Freunden. Sie hüllte ſich
ſchnell in einen ſilberweißen Schleier, in welchen ſie die
Thräne verbarg, die ihr an den Wimpern hing, und eilte,
von Aethra und Klymene, zweien ihren Dienerinnen ge¬
folgt, nach dem Skäiſchen Thore. Hier ſaß auf den Zin¬
nen König Priamus mit den älteſten und verſtändigſten
Greiſen des trojaniſchen Volkes, Panthous, Thymötus,
Lampus, Klytius, Hiketaon, Antenor und Ukalegon; die
beiden Letztern waren die verſtändigſten Männer von
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/125>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.