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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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und weiter drüben steht wie ein Gott unter seinen Kretern
Idomeneus. Ich kenne ihn wohl; Menelaus hat ihn oft
in unserer Wohnung beherbergt. Und ach, nun erkenne
ich Einen um den Andern, die freudigen Krieger aus
meiner Heimath; hätten wir Muße, so wollte ich dir sie
Alle mit Namen nennen! Nur meine leiblichen Brüder
Kastor und Pollux sehe ich nicht. Sind sie wohl nicht
mit hierher gekommen? oder scheuen sie sich, in der
Schlacht zu erscheinen, weil sie sich ihrer Schwester schä¬
men?" Ueber diesem Gedanken verstummte Helena; sie
wußte nicht, daß ihre Brüder schon lange von der Erde
verschwunden waren.

Während diese sich so unterredeten, trugen die Herolde
die Bundesopfer durch die Stadt, welche aus zwei Läm¬
mern und aus einheimischem Weine zum Trankopfer, der
in einen bocksledernen Schlauch gefüllt war, bestand. Der
Herold Idäus folgte mit einem blinkenden Krug und gol¬
denen Becher. Als sie durchs Skäische Thor kamen, nahte
dieser dem Könige Priamus und sprach zu ihm: "Mach
dich auf, König, beide, die Fürsten der Trojaner und der
Griechen rufen dich hinab ins Gefilde, damit du dort
einen heiligen Vertrag beschwörest. Dein Sohn Paris
und Menelaus werden allein um das Weib mit dem
Speere kämpfen: wer im Kampfe siegt, dem folgt sie mit
sammt den Schätzen. Alsdann schiffen die Danaer nach
Griechenland zurück." Der König stutzte, doch befahl er
seinen Gefährten, die Rosse anzuschirren, und mit ihm
bestieg Antenor den Wagensitz. Priamus ergriff die Zügel
und bald flogen die Rosse durchs Skäische Thor hinaus
aufs Blachfeld. Zwischen den beiden Völkern angekom¬
men, verließ der König mit seinem Begleiter den Wagen

und weiter drüben ſteht wie ein Gott unter ſeinen Kretern
Idomeneus. Ich kenne ihn wohl; Menelaus hat ihn oft
in unſerer Wohnung beherbergt. Und ach, nun erkenne
ich Einen um den Andern, die freudigen Krieger aus
meiner Heimath; hätten wir Muße, ſo wollte ich dir ſie
Alle mit Namen nennen! Nur meine leiblichen Brüder
Kaſtor und Pollux ſehe ich nicht. Sind ſie wohl nicht
mit hierher gekommen? oder ſcheuen ſie ſich, in der
Schlacht zu erſcheinen, weil ſie ſich ihrer Schweſter ſchä¬
men?“ Ueber dieſem Gedanken verſtummte Helena; ſie
wußte nicht, daß ihre Brüder ſchon lange von der Erde
verſchwunden waren.

Während dieſe ſich ſo unterredeten, trugen die Herolde
die Bundesopfer durch die Stadt, welche aus zwei Läm¬
mern und aus einheimiſchem Weine zum Trankopfer, der
in einen bocksledernen Schlauch gefüllt war, beſtand. Der
Herold Idäus folgte mit einem blinkenden Krug und gol¬
denen Becher. Als ſie durchs Skäiſche Thor kamen, nahte
dieſer dem Könige Priamus und ſprach zu ihm: „Mach
dich auf, König, beide, die Fürſten der Trojaner und der
Griechen rufen dich hinab ins Gefilde, damit du dort
einen heiligen Vertrag beſchwöreſt. Dein Sohn Paris
und Menelaus werden allein um das Weib mit dem
Speere kämpfen: wer im Kampfe ſiegt, dem folgt ſie mit
ſammt den Schätzen. Alsdann ſchiffen die Danaer nach
Griechenland zurück.“ Der König ſtutzte, doch befahl er
ſeinen Gefährten, die Roſſe anzuſchirren, und mit ihm
beſtieg Antenor den Wagenſitz. Priamus ergriff die Zügel
und bald flogen die Roſſe durchs Skäiſche Thor hinaus
aufs Blachfeld. Zwiſchen den beiden Völkern angekom¬
men, verließ der König mit ſeinem Begleiter den Wagen

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[106/0128] und weiter drüben ſteht wie ein Gott unter ſeinen Kretern Idomeneus. Ich kenne ihn wohl; Menelaus hat ihn oft in unſerer Wohnung beherbergt. Und ach, nun erkenne ich Einen um den Andern, die freudigen Krieger aus meiner Heimath; hätten wir Muße, ſo wollte ich dir ſie Alle mit Namen nennen! Nur meine leiblichen Brüder Kaſtor und Pollux ſehe ich nicht. Sind ſie wohl nicht mit hierher gekommen? oder ſcheuen ſie ſich, in der Schlacht zu erſcheinen, weil ſie ſich ihrer Schweſter ſchä¬ men?“ Ueber dieſem Gedanken verſtummte Helena; ſie wußte nicht, daß ihre Brüder ſchon lange von der Erde verſchwunden waren. Während dieſe ſich ſo unterredeten, trugen die Herolde die Bundesopfer durch die Stadt, welche aus zwei Läm¬ mern und aus einheimiſchem Weine zum Trankopfer, der in einen bocksledernen Schlauch gefüllt war, beſtand. Der Herold Idäus folgte mit einem blinkenden Krug und gol¬ denen Becher. Als ſie durchs Skäiſche Thor kamen, nahte dieſer dem Könige Priamus und ſprach zu ihm: „Mach dich auf, König, beide, die Fürſten der Trojaner und der Griechen rufen dich hinab ins Gefilde, damit du dort einen heiligen Vertrag beſchwöreſt. Dein Sohn Paris und Menelaus werden allein um das Weib mit dem Speere kämpfen: wer im Kampfe ſiegt, dem folgt ſie mit ſammt den Schätzen. Alsdann ſchiffen die Danaer nach Griechenland zurück.“ Der König ſtutzte, doch befahl er ſeinen Gefährten, die Roſſe anzuſchirren, und mit ihm beſtieg Antenor den Wagenſitz. Priamus ergriff die Zügel und bald flogen die Roſſe durchs Skäiſche Thor hinaus aufs Blachfeld. Zwiſchen den beiden Völkern angekom¬ men, verließ der König mit ſeinem Begleiter den Wagen

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/128>, abgerufen am 21.11.2024.