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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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und sprach zu ihr: "Komm, Paris ruft dich, er sitzt in
der Kammer in reizendem Feierkleide; du solltest glauben,
er gehe zum Reigen und nicht, er komme vom Zweikampf."
Als Helena aufblickte, sah sie Venus in göttlichem Reize
vor sich verschwinden. Unbemerkt von den Frauen schlich
sie sich davon und eilte nach ihrem Pallaste. Dort fand
sie im hohen Gemache den Gatten, von Aphrodite ge¬
schmückt, in einen Sessel gelagert. Sie setzte sich ihm
gegenüber, kehrte die Augen weg und schalt ihren Ge¬
mahl: "So kommst du vom Kampfe zurück? Lieber sähe
ich dich getödtet von dem Gewaltigen, der mein erster
Gatte war! Noch kürzlich prahltest du, ihn im Lanzen¬
wurf und im Handgemenge zu besiegen! Geh nun, und
fordere ihn noch einmal heraus! Doch nein, ich rathe
dir, bleib in Ruhe, das zweite Mal dürfte er dir übler
mitspielen!" "Kränke mir das Herz nicht durch deine
Schmähungen, Frau," erwiederte ihr Paris, "wenn Me¬
nelaus mich besiegt hat, so geschah es mit Athene's Hülfe.
Ein andermal werde ich über ihn siegen; die Götter
haben auch uns noch nicht vergessen." Da wandte Aphro¬
dite Helena's Herz, daß sie den Gatten freundlicher ansah
und ihm versöhnt die Lippen zum Kusse reichte.

Auf dem Kampfplatze durchstürmte Menelaus noch
immer wie ein Raubthier das Heer, den verschwundenen
Paris ausspähend: aber weder ein Trojaner, noch ein
Grieche konnte ihm den Fürsten zeigen, und doch hätten
sie ihn gewiß nicht verhehlt, denn er war beiden zu¬
wider, wie der Tod. Endlich erhob Agamemnon seine
Stimme und sprach: "Höret mein Wort, ihr Dardaner
und Griechen! Menelaus ist der offenbare Sieger. So

und ſprach zu ihr: „Komm, Paris ruft dich, er ſitzt in
der Kammer in reizendem Feierkleide; du ſollteſt glauben,
er gehe zum Reigen und nicht, er komme vom Zweikampf.“
Als Helena aufblickte, ſah ſie Venus in göttlichem Reize
vor ſich verſchwinden. Unbemerkt von den Frauen ſchlich
ſie ſich davon und eilte nach ihrem Pallaſte. Dort fand
ſie im hohen Gemache den Gatten, von Aphrodite ge¬
ſchmückt, in einen Seſſel gelagert. Sie ſetzte ſich ihm
gegenüber, kehrte die Augen weg und ſchalt ihren Ge¬
mahl: „So kommſt du vom Kampfe zurück? Lieber ſähe
ich dich getödtet von dem Gewaltigen, der mein erſter
Gatte war! Noch kürzlich prahlteſt du, ihn im Lanzen¬
wurf und im Handgemenge zu beſiegen! Geh nun, und
fordere ihn noch einmal heraus! Doch nein, ich rathe
dir, bleib in Ruhe, das zweite Mal dürfte er dir übler
mitſpielen!“ „Kränke mir das Herz nicht durch deine
Schmähungen, Frau,“ erwiederte ihr Paris, „wenn Me¬
nelaus mich beſiegt hat, ſo geſchah es mit Athene's Hülfe.
Ein andermal werde ich über ihn ſiegen; die Götter
haben auch uns noch nicht vergeſſen.“ Da wandte Aphro¬
dite Helena's Herz, daß ſie den Gatten freundlicher anſah
und ihm verſöhnt die Lippen zum Kuſſe reichte.

Auf dem Kampfplatze durchſtürmte Menelaus noch
immer wie ein Raubthier das Heer, den verſchwundenen
Paris ausſpähend: aber weder ein Trojaner, noch ein
Grieche konnte ihm den Fürſten zeigen, und doch hätten
ſie ihn gewiß nicht verhehlt, denn er war beiden zu¬
wider, wie der Tod. Endlich erhob Agamemnon ſeine
Stimme und ſprach: „Höret mein Wort, ihr Dardaner
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[109/0131] und ſprach zu ihr: „Komm, Paris ruft dich, er ſitzt in der Kammer in reizendem Feierkleide; du ſollteſt glauben, er gehe zum Reigen und nicht, er komme vom Zweikampf.“ Als Helena aufblickte, ſah ſie Venus in göttlichem Reize vor ſich verſchwinden. Unbemerkt von den Frauen ſchlich ſie ſich davon und eilte nach ihrem Pallaſte. Dort fand ſie im hohen Gemache den Gatten, von Aphrodite ge¬ ſchmückt, in einen Seſſel gelagert. Sie ſetzte ſich ihm gegenüber, kehrte die Augen weg und ſchalt ihren Ge¬ mahl: „So kommſt du vom Kampfe zurück? Lieber ſähe ich dich getödtet von dem Gewaltigen, der mein erſter Gatte war! Noch kürzlich prahlteſt du, ihn im Lanzen¬ wurf und im Handgemenge zu beſiegen! Geh nun, und fordere ihn noch einmal heraus! Doch nein, ich rathe dir, bleib in Ruhe, das zweite Mal dürfte er dir übler mitſpielen!“ „Kränke mir das Herz nicht durch deine Schmähungen, Frau,“ erwiederte ihr Paris, „wenn Me¬ nelaus mich beſiegt hat, ſo geſchah es mit Athene's Hülfe. Ein andermal werde ich über ihn ſiegen; die Götter haben auch uns noch nicht vergeſſen.“ Da wandte Aphro¬ dite Helena's Herz, daß ſie den Gatten freundlicher anſah und ihm verſöhnt die Lippen zum Kuſſe reichte. Auf dem Kampfplatze durchſtürmte Menelaus noch immer wie ein Raubthier das Heer, den verſchwundenen Paris ausſpähend: aber weder ein Trojaner, noch ein Grieche konnte ihm den Fürſten zeigen, und doch hätten ſie ihn gewiß nicht verhehlt, denn er war beiden zu¬ wider, wie der Tod. Endlich erhob Agamemnon ſeine Stimme und ſprach: „Höret mein Wort, ihr Dardaner und Griechen! Menelaus iſt der offenbare Sieger. So

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/131>, abgerufen am 24.11.2024.