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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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Eniopeus die Brust, daß er dem Wagen entsank. So
tief ihn der Tod des Freundes schmerzte, ließ ihn Hektor
doch liegen, rief einen andern Helden herbei, die Rosse
zu lenken, und flog dem Diomedes entgegen. Hektor
wäre verloren gewesen, wenn er sich mit dem Tydiden
gemessen hätte, und Jupiter wußte wohl, daß mit seinem
Sturze sich die Schlacht gewendet und die Griechen noch
an diesem Tage Ilion erobert hätten. Dieß wollte Zeus
nicht, und schleuderte dicht vor dem Wagen des Dio¬
medes einen Blitzstrahl in den Boden. Nestor ließ vor
Schrecken die Zügel aus den Händen fahren und sprach:
"Auf, Diomedes, wende deine Rosse zur Flucht, erkennst
du nicht, daß Jupiter dir heute den Sieg verweigert?"
"Du hast Recht, o Greis," erwiederte dieser, "aber es
empört mir das Herz, wenn Hektor einst in der Versamm¬
lung der Trojaner sagen darf: der Sohn des Tydeus hat
sich vor mir in banger Flucht den Schiffen zugewendet!"
Aber Nestor sprach: "Was denkst du, wenn dich Hektor
auch feige schilt, werden ihm die Troer und Troerinnen
glauben, deren Freunde und Gatten du in den Staub
gestreckt hast?" Mit diesen Worten wandte er die Rosse
zur Flucht und Hektor, mit seinen Trojanern nachstürmend,
rief: "Tydide, dich ehrten die Griechen in der Versamm¬
lung und beim Festmahl; künftig verachten sie dich, wie
ein zagendes Weib! Du bist es nicht, der Troja erobern
und unsere Frauen zu Schiffe wegführen wird!" Da
besann sich Diomedes dreimal, ob er die Rosse umlenken
und dem Höhnenden entgegenfahren sollte, aber dreimal
donnerte Jupiter fürchterlich vom Ida her, und so setzte
er die Flucht und Hektor die Verfolgung fort.

Vergebens wollte Juno, die dieß mit Kummer sah,

Eniopeus die Bruſt, daß er dem Wagen entſank. So
tief ihn der Tod des Freundes ſchmerzte, ließ ihn Hektor
doch liegen, rief einen andern Helden herbei, die Roſſe
zu lenken, und flog dem Diomedes entgegen. Hektor
wäre verloren geweſen, wenn er ſich mit dem Tydiden
gemeſſen hätte, und Jupiter wußte wohl, daß mit ſeinem
Sturze ſich die Schlacht gewendet und die Griechen noch
an dieſem Tage Ilion erobert hätten. Dieß wollte Zeus
nicht, und ſchleuderte dicht vor dem Wagen des Dio¬
medes einen Blitzſtrahl in den Boden. Neſtor ließ vor
Schrecken die Zügel aus den Händen fahren und ſprach:
„Auf, Diomedes, wende deine Roſſe zur Flucht, erkennſt
du nicht, daß Jupiter dir heute den Sieg verweigert?“
„Du haſt Recht, o Greis,“ erwiederte dieſer, „aber es
empört mir das Herz, wenn Hektor einſt in der Verſamm¬
lung der Trojaner ſagen darf: der Sohn des Tydeus hat
ſich vor mir in banger Flucht den Schiffen zugewendet!“
Aber Neſtor ſprach: „Was denkſt du, wenn dich Hektor
auch feige ſchilt, werden ihm die Troer und Troerinnen
glauben, deren Freunde und Gatten du in den Staub
geſtreckt haſt?“ Mit dieſen Worten wandte er die Roſſe
zur Flucht und Hektor, mit ſeinen Trojanern nachſtürmend,
rief: „Tydide, dich ehrten die Griechen in der Verſamm¬
lung und beim Feſtmahl; künftig verachten ſie dich, wie
ein zagendes Weib! Du biſt es nicht, der Troja erobern
und unſere Frauen zu Schiffe wegführen wird!“ Da
beſann ſich Diomedes dreimal, ob er die Roſſe umlenken
und dem Höhnenden entgegenfahren ſollte, aber dreimal
donnerte Jupiter fürchterlich vom Ida her, und ſo ſetzte
er die Flucht und Hektor die Verfolgung fort.

Vergebens wollte Juno, die dieß mit Kummer ſah,

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[155/0177] Eniopeus die Bruſt, daß er dem Wagen entſank. So tief ihn der Tod des Freundes ſchmerzte, ließ ihn Hektor doch liegen, rief einen andern Helden herbei, die Roſſe zu lenken, und flog dem Diomedes entgegen. Hektor wäre verloren geweſen, wenn er ſich mit dem Tydiden gemeſſen hätte, und Jupiter wußte wohl, daß mit ſeinem Sturze ſich die Schlacht gewendet und die Griechen noch an dieſem Tage Ilion erobert hätten. Dieß wollte Zeus nicht, und ſchleuderte dicht vor dem Wagen des Dio¬ medes einen Blitzſtrahl in den Boden. Neſtor ließ vor Schrecken die Zügel aus den Händen fahren und ſprach: „Auf, Diomedes, wende deine Roſſe zur Flucht, erkennſt du nicht, daß Jupiter dir heute den Sieg verweigert?“ „Du haſt Recht, o Greis,“ erwiederte dieſer, „aber es empört mir das Herz, wenn Hektor einſt in der Verſamm¬ lung der Trojaner ſagen darf: der Sohn des Tydeus hat ſich vor mir in banger Flucht den Schiffen zugewendet!“ Aber Neſtor ſprach: „Was denkſt du, wenn dich Hektor auch feige ſchilt, werden ihm die Troer und Troerinnen glauben, deren Freunde und Gatten du in den Staub geſtreckt haſt?“ Mit dieſen Worten wandte er die Roſſe zur Flucht und Hektor, mit ſeinen Trojanern nachſtürmend, rief: „Tydide, dich ehrten die Griechen in der Verſamm¬ lung und beim Feſtmahl; künftig verachten ſie dich, wie ein zagendes Weib! Du biſt es nicht, der Troja erobern und unſere Frauen zu Schiffe wegführen wird!“ Da beſann ſich Diomedes dreimal, ob er die Roſſe umlenken und dem Höhnenden entgegenfahren ſollte, aber dreimal donnerte Jupiter fürchterlich vom Ida her, und ſo ſetzte er die Flucht und Hektor die Verfolgung fort. Vergebens wollte Juno, die dieß mit Kummer ſah,

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/177>, abgerufen am 25.11.2024.