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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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bis wir die Burg des Priamus zerstört haben. Ja, wenn
sie Alle davon gingen, so blieben doch wir, ich und mein
Freund Sthenelus, und kämpften fort, im Glauben, daß
eine Gottheit uns hierher geführt!" Die Helden jubelten
bei diesem Worte und Nestor sprach: "Du könntest mein
jüngster Sohn seyn, o Jüngling, und doch hast du lauter
Verständiges gesprochen. Auf daher, Agamemnon, gib
den Führern ein Mahl, du hast ja Weins genug in den
Zelten; die Schaarenhüter sollen sich am Graben drau¬
ßen vor der Mauer lagern, du aber horche beim Mahl
auf den Rath der Besten unter dem Volke."

So geschah es. Die Fürsten schmausten bei Aga¬
memnon getrösteteren Muths, und nach dem Mahle sprach
Nestor wieder in der Versammlung: "Agamemnon, du
weißt, was seit dem Tage geschehen ist, an welchem du
dem zürnenden Peliden die schöne Tochter des Brises aus
den Zelten raubtest, wider unsern Sinn: denn ich habe
dich mit großem Ernst abgemahnt. Jetzt ist es Zeit,
daraus zu sinnen, wie wir das Herz des Gekränkten zur
Versöhnung bewegen mögen." "Du hast Recht, o Greis,"
antwortete Agamemnon, "ich habe gefehlt, und läugne es
nicht. Auch will ich es gerne gut machen, und dem Be¬
leidigten unendliche Sühnung bieten: zehn Talente Gol¬
des, sieben Dreifüße, zwanzig Becken, zwölf Rosse, sieben
blühende lesbische Weiber, die ich selbst erobert habe, end¬
lich die liebliche Jungfrau Briseis selbst, die ich, obgleich
ich sie dem Achilles entrissen, doch immer in Ehren gehal¬
ten habe, wie ich mit heiligem Eide beschwören kann.
Erobern wir dann Troja und theilen den Siegsraub, so
will ich ihm selbst sein Schiff mit Erz und Gold voll
füllen, und er mag sich zwanzig Trojanerinnen, die schönsten

Schwab, das klass. Alterthum. II . 11

bis wir die Burg des Priamus zerſtört haben. Ja, wenn
ſie Alle davon gingen, ſo blieben doch wir, ich und mein
Freund Sthenelus, und kämpften fort, im Glauben, daß
eine Gottheit uns hierher geführt!“ Die Helden jubelten
bei dieſem Worte und Neſtor ſprach: „Du könnteſt mein
jüngſter Sohn ſeyn, o Jüngling, und doch haſt du lauter
Verſtändiges geſprochen. Auf daher, Agamemnon, gib
den Führern ein Mahl, du haſt ja Weins genug in den
Zelten; die Schaarenhüter ſollen ſich am Graben drau¬
ßen vor der Mauer lagern, du aber horche beim Mahl
auf den Rath der Beſten unter dem Volke.“

So geſchah es. Die Fürſten ſchmausten bei Aga¬
memnon getröſteteren Muths, und nach dem Mahle ſprach
Neſtor wieder in der Verſammlung: „Agamemnon, du
weißt, was ſeit dem Tage geſchehen iſt, an welchem du
dem zürnenden Peliden die ſchöne Tochter des Briſes aus
den Zelten raubteſt, wider unſern Sinn: denn ich habe
dich mit großem Ernſt abgemahnt. Jetzt iſt es Zeit,
daraus zu ſinnen, wie wir das Herz des Gekränkten zur
Verſöhnung bewegen mögen.“ „Du haſt Recht, o Greis,“
antwortete Agamemnon, „ich habe gefehlt, und läugne es
nicht. Auch will ich es gerne gut machen, und dem Be¬
leidigten unendliche Sühnung bieten: zehn Talente Gol¬
des, ſieben Dreifüße, zwanzig Becken, zwölf Roſſe, ſieben
blühende lesbiſche Weiber, die ich ſelbſt erobert habe, end¬
lich die liebliche Jungfrau Briſëis ſelbſt, die ich, obgleich
ich ſie dem Achilles entriſſen, doch immer in Ehren gehal¬
ten habe, wie ich mit heiligem Eide beſchwören kann.
Erobern wir dann Troja und theilen den Siegsraub, ſo
will ich ihm ſelbſt ſein Schiff mit Erz und Gold voll
füllen, und er mag ſich zwanzig Trojanerinnen, die ſchönſten

Schwab, das klaſſ. Alterthum. II . 11
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[161/0183] bis wir die Burg des Priamus zerſtört haben. Ja, wenn ſie Alle davon gingen, ſo blieben doch wir, ich und mein Freund Sthenelus, und kämpften fort, im Glauben, daß eine Gottheit uns hierher geführt!“ Die Helden jubelten bei dieſem Worte und Neſtor ſprach: „Du könnteſt mein jüngſter Sohn ſeyn, o Jüngling, und doch haſt du lauter Verſtändiges geſprochen. Auf daher, Agamemnon, gib den Führern ein Mahl, du haſt ja Weins genug in den Zelten; die Schaarenhüter ſollen ſich am Graben drau¬ ßen vor der Mauer lagern, du aber horche beim Mahl auf den Rath der Beſten unter dem Volke.“ So geſchah es. Die Fürſten ſchmausten bei Aga¬ memnon getröſteteren Muths, und nach dem Mahle ſprach Neſtor wieder in der Verſammlung: „Agamemnon, du weißt, was ſeit dem Tage geſchehen iſt, an welchem du dem zürnenden Peliden die ſchöne Tochter des Briſes aus den Zelten raubteſt, wider unſern Sinn: denn ich habe dich mit großem Ernſt abgemahnt. Jetzt iſt es Zeit, daraus zu ſinnen, wie wir das Herz des Gekränkten zur Verſöhnung bewegen mögen.“ „Du haſt Recht, o Greis,“ antwortete Agamemnon, „ich habe gefehlt, und läugne es nicht. Auch will ich es gerne gut machen, und dem Be¬ leidigten unendliche Sühnung bieten: zehn Talente Gol¬ des, ſieben Dreifüße, zwanzig Becken, zwölf Roſſe, ſieben blühende lesbiſche Weiber, die ich ſelbſt erobert habe, end¬ lich die liebliche Jungfrau Briſëis ſelbſt, die ich, obgleich ich ſie dem Achilles entriſſen, doch immer in Ehren gehal¬ ten habe, wie ich mit heiligem Eide beſchwören kann. Erobern wir dann Troja und theilen den Siegsraub, ſo will ich ihm ſelbſt ſein Schiff mit Erz und Gold voll füllen, und er mag ſich zwanzig Trojanerinnen, die ſchönſten Schwab, das klaſſ. Alterthum. II . 11

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/183>, abgerufen am 25.11.2024.