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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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Weines herbei. Achilles selbst steckte den Rücken einer
Ziege und eines Schafes und das Schulterblatt eines
Mastschweins an den Spieß und briet Alles mit Hülfe
seines Gefährten Automedon. Nachdem sie sich nun, um
das Mahl gelagert, an Speise und Trank gelabt hatten,
winkte Ajax dem Phönix; Odysseus aber kam diesem zu¬
vor, füllte den Becher mit Wein und trank dem Peliden
mit einem Handschlage zu; dann begann er: "Heil dir,
Pelide, deinem Schmaus gebricht es nicht an Fülle; aber
nicht das liebliche Mahl ist's, wornach uns verlangt; son¬
dern unser großes Unglück führt uns zu dir. Denn jetzt
gilt es unsere Rettung oder unsern Untergang, je nachdem
du mit uns gehest, oder nicht. Die Trojaner bedrohen
den Steinwall und unsere Schiffe; Hektor, die Augen
voll Mordlust, wüthet, auf Jupiter vertrauend. Erhebe
dich denn, die Griechen, wenn auch spät, zu befreien; bän¬
dige den Stolz deines Herzens, glaube mir, freundlicher
Sinn ist besser, als verderblicher Zank. Hat dir doch dein
Vater Peleus selbst solche Ermahnungen mit auf den Zug
gegeben!" Dann zählte ihm Odysseus alle die herrlichen
Gaben auf, die Agamemnon ihm zur Sühne anbieten
ließ und noch weiter versprach.

Aber Achilles erwiederte: "Edler Sohn des Laertes,
ich muß deine schöne Rede von der Brust weg mit Nein
beantworten. Agamemnon ist mir verhaßt, wie die Pforte
des Hades, und weder er noch die Griechen werden mich
bereden, wieder in ihren Reihen zu kämpfen, denn wann
habe ich einen Dank für meine Heldenarbeit davongetra¬
gen? Wie eine Mutter den nackten Vögelchen den ge¬
fundenen Bissen darbringt, auch wenn sie selbst hungert,
so habe ich unruhige Nächte und blutige Tage genug

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Weines herbei. Achilles ſelbſt ſteckte den Rücken einer
Ziege und eines Schafes und das Schulterblatt eines
Maſtſchweins an den Spieß und briet Alles mit Hülfe
ſeines Gefährten Automedon. Nachdem ſie ſich nun, um
das Mahl gelagert, an Speiſe und Trank gelabt hatten,
winkte Ajax dem Phönix; Odyſſeus aber kam dieſem zu¬
vor, füllte den Becher mit Wein und trank dem Peliden
mit einem Handſchlage zu; dann begann er: „Heil dir,
Pelide, deinem Schmaus gebricht es nicht an Fülle; aber
nicht das liebliche Mahl iſt's, wornach uns verlangt; ſon¬
dern unſer großes Unglück führt uns zu dir. Denn jetzt
gilt es unſere Rettung oder unſern Untergang, je nachdem
du mit uns geheſt, oder nicht. Die Trojaner bedrohen
den Steinwall und unſere Schiffe; Hektor, die Augen
voll Mordluſt, wüthet, auf Jupiter vertrauend. Erhebe
dich denn, die Griechen, wenn auch ſpät, zu befreien; bän¬
dige den Stolz deines Herzens, glaube mir, freundlicher
Sinn iſt beſſer, als verderblicher Zank. Hat dir doch dein
Vater Peleus ſelbſt ſolche Ermahnungen mit auf den Zug
gegeben!“ Dann zählte ihm Odyſſeus alle die herrlichen
Gaben auf, die Agamemnon ihm zur Sühne anbieten
ließ und noch weiter verſprach.

Aber Achilles erwiederte: „Edler Sohn des Laertes,
ich muß deine ſchöne Rede von der Bruſt weg mit Nein
beantworten. Agamemnon iſt mir verhaßt, wie die Pforte
des Hades, und weder er noch die Griechen werden mich
bereden, wieder in ihren Reihen zu kämpfen, denn wann
habe ich einen Dank für meine Heldenarbeit davongetra¬
gen? Wie eine Mutter den nackten Vögelchen den ge¬
fundenen Biſſen darbringt, auch wenn ſie ſelbſt hungert,
ſo habe ich unruhige Nächte und blutige Tage genug

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[163/0185] Weines herbei. Achilles ſelbſt ſteckte den Rücken einer Ziege und eines Schafes und das Schulterblatt eines Maſtſchweins an den Spieß und briet Alles mit Hülfe ſeines Gefährten Automedon. Nachdem ſie ſich nun, um das Mahl gelagert, an Speiſe und Trank gelabt hatten, winkte Ajax dem Phönix; Odyſſeus aber kam dieſem zu¬ vor, füllte den Becher mit Wein und trank dem Peliden mit einem Handſchlage zu; dann begann er: „Heil dir, Pelide, deinem Schmaus gebricht es nicht an Fülle; aber nicht das liebliche Mahl iſt's, wornach uns verlangt; ſon¬ dern unſer großes Unglück führt uns zu dir. Denn jetzt gilt es unſere Rettung oder unſern Untergang, je nachdem du mit uns geheſt, oder nicht. Die Trojaner bedrohen den Steinwall und unſere Schiffe; Hektor, die Augen voll Mordluſt, wüthet, auf Jupiter vertrauend. Erhebe dich denn, die Griechen, wenn auch ſpät, zu befreien; bän¬ dige den Stolz deines Herzens, glaube mir, freundlicher Sinn iſt beſſer, als verderblicher Zank. Hat dir doch dein Vater Peleus ſelbſt ſolche Ermahnungen mit auf den Zug gegeben!“ Dann zählte ihm Odyſſeus alle die herrlichen Gaben auf, die Agamemnon ihm zur Sühne anbieten ließ und noch weiter verſprach. Aber Achilles erwiederte: „Edler Sohn des Laertes, ich muß deine ſchöne Rede von der Bruſt weg mit Nein beantworten. Agamemnon iſt mir verhaßt, wie die Pforte des Hades, und weder er noch die Griechen werden mich bereden, wieder in ihren Reihen zu kämpfen, denn wann habe ich einen Dank für meine Heldenarbeit davongetra¬ gen? Wie eine Mutter den nackten Vögelchen den ge¬ fundenen Biſſen darbringt, auch wenn ſie ſelbſt hungert, ſo habe ich unruhige Nächte und blutige Tage genug 11 *

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/185>, abgerufen am 26.11.2024.