über auf die Augenlieder der Atriden; in banger Angst erhoben sich beide noch vor Tagesanbruch und theilten sich in ihr Geschäft. Menelaus ging, die Helden Mann für Mann in den Zelten zu bearbeiten; Agamemnon aber wandelte nach der Lagerhütte Nestors. Er fand den Greis noch im weichen Bette ruhend; Rüstung, Schild, Helm, Gurt und zwei Lanzen lagen an der Seite des Lagers. Der Greis, aus dem Schlaf erweckt, stützte sich auf den Ellbogen, und rief dem Atriden zu: "Wer bist du, der in finsterer Nacht, wo andere Sterbliche schlummern, so einsam durch die Schiffe wandelt, als suchtest du einen Freund, oder ein verlaufenes Maulthier? So rede doch, du Schweigender, was suchst du?" "Erkenne mich, Ne¬ stor," sprach Jener leise, "ich bin Agamemnon, den Jupi¬ ter in so unergründliches Leid versenkt hat; kein Schlaf kommt in meine Augen, mein Herz klopft; meine Glieder zittern aus Angst um die Danaer. Laß uns zu den Hü¬ tern hinabgehen, ob sie nicht schlummern. Weiß doch Kei¬ ner von uns, ob die Feinde nicht noch in der Nacht einen Angriff machen werden!" Nestor zog eilig seinen wollenen Leibrock an, warf den Purpurmantel um, ergriff die Lanze und durchwandelte mit dem Könige die Schiffsgassen. Zuerst weckten sie Odysseus, der auf ihren Ruf sogleich den Schild um die Schultern warf und ihnen folgte; dann nahte sich Nestor dem Zelt und der Lagerstatt des Tydi¬ den, berührte ihm den Fuß mit der Ferse, und weckte ihn scheltend. "Unmüßiger Greis," antwortete der Held im hellen Schlafe, "du kannst doch nimmer von der Arbeit ruhen! Gäbe es nicht Jüngere genug, die das Heer bei Nacht durchwandern und die Helden aus dem Schlafe we¬ cken könnten? Aber du bist unbändig, Alter!" "Du hast
über auf die Augenlieder der Atriden; in banger Angſt erhoben ſich beide noch vor Tagesanbruch und theilten ſich in ihr Geſchäft. Menelaus ging, die Helden Mann für Mann in den Zelten zu bearbeiten; Agamemnon aber wandelte nach der Lagerhütte Neſtors. Er fand den Greis noch im weichen Bette ruhend; Rüſtung, Schild, Helm, Gurt und zwei Lanzen lagen an der Seite des Lagers. Der Greis, aus dem Schlaf erweckt, ſtützte ſich auf den Ellbogen, und rief dem Atriden zu: „Wer biſt du, der in finſterer Nacht, wo andere Sterbliche ſchlummern, ſo einſam durch die Schiffe wandelt, als ſuchteſt du einen Freund, oder ein verlaufenes Maulthier? So rede doch, du Schweigender, was ſuchſt du?“ „Erkenne mich, Ne¬ ſtor,“ ſprach Jener leiſe, „ich bin Agamemnon, den Jupi¬ ter in ſo unergründliches Leid verſenkt hat; kein Schlaf kommt in meine Augen, mein Herz klopft; meine Glieder zittern aus Angſt um die Danaer. Laß uns zu den Hü¬ tern hinabgehen, ob ſie nicht ſchlummern. Weiß doch Kei¬ ner von uns, ob die Feinde nicht noch in der Nacht einen Angriff machen werden!“ Neſtor zog eilig ſeinen wollenen Leibrock an, warf den Purpurmantel um, ergriff die Lanze und durchwandelte mit dem Könige die Schiffsgaſſen. Zuerſt weckten ſie Odyſſeus, der auf ihren Ruf ſogleich den Schild um die Schultern warf und ihnen folgte; dann nahte ſich Neſtor dem Zelt und der Lagerſtatt des Tydi¬ den, berührte ihm den Fuß mit der Ferſe, und weckte ihn ſcheltend. „Unmüßiger Greis,“ antwortete der Held im hellen Schlafe, „du kannſt doch nimmer von der Arbeit ruhen! Gäbe es nicht Jüngere genug, die das Heer bei Nacht durchwandern und die Helden aus dem Schlafe we¬ cken könnten? Aber du biſt unbändig, Alter!“ „Du haſt
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über auf die Augenlieder der Atriden; in banger Angſt
erhoben ſich beide noch vor Tagesanbruch und theilten ſich
in ihr Geſchäft. Menelaus ging, die Helden Mann für
Mann in den Zelten zu bearbeiten; Agamemnon aber
wandelte nach der Lagerhütte Neſtors. Er fand den Greis
noch im weichen Bette ruhend; Rüſtung, Schild, Helm,
Gurt und zwei Lanzen lagen an der Seite des Lagers.
Der Greis, aus dem Schlaf erweckt, ſtützte ſich auf den
Ellbogen, und rief dem Atriden zu: „Wer biſt du, der
in finſterer Nacht, wo andere Sterbliche ſchlummern, ſo
einſam durch die Schiffe wandelt, als ſuchteſt du einen
Freund, oder ein verlaufenes Maulthier? So rede doch,
du Schweigender, was ſuchſt du?“ „Erkenne mich, Ne¬
ſtor,“ ſprach Jener leiſe, „ich bin Agamemnon, den Jupi¬
ter in ſo unergründliches Leid verſenkt hat; kein Schlaf
kommt in meine Augen, mein Herz klopft; meine Glieder
zittern aus Angſt um die Danaer. Laß uns zu den Hü¬
tern hinabgehen, ob ſie nicht ſchlummern. Weiß doch Kei¬
ner von uns, ob die Feinde nicht noch in der Nacht einen
Angriff machen werden!“ Neſtor zog eilig ſeinen wollenen
Leibrock an, warf den Purpurmantel um, ergriff die Lanze
und durchwandelte mit dem Könige die Schiffsgaſſen.
Zuerſt weckten ſie Odyſſeus, der auf ihren Ruf ſogleich
den Schild um die Schultern warf und ihnen folgte; dann
nahte ſich Neſtor dem Zelt und der Lagerſtatt des Tydi¬
den, berührte ihm den Fuß mit der Ferſe, und weckte ihn
ſcheltend. „Unmüßiger Greis,“ antwortete der Held im
hellen Schlafe, „du kannſt doch nimmer von der Arbeit
ruhen! Gäbe es nicht Jüngere genug, die das Heer bei
Nacht durchwandern und die Helden aus dem Schlafe we¬
cken könnten? Aber du biſt unbändig, Alter!“ „Du haſt
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/187>, abgerufen am 26.11.2024.
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