benetzen, kam Neptunus bei den Schiffen der Danaer, zwischen Tenedos und Imbros, in einer tiefen Grotte an, wo er die Rosse aus dem Geschirr spannte, ihnen die Füße mit goldenen Fesseln umschlang, und Ambrosia zur Kost reichte. Er selbst eilte mitten ins Gewühl der Schlacht, wo sich die Trojaner wie ein Orkan um Hektor mit brausendem Geschrei drängten, und jetzt eben die Schiffe der Griechen zu bemeistern hofften. Da gesellte sich Poseidon zu den Reihen der Griechen, dem Seher Kalchas an Wuchs und Stimme gleich. Zuerst rief er den beiden Ajax zu, die für sich selbst schon von Kampf¬ lust glühten: "Ihr Helden beide vermöchtet wohl das Volk der Griechen zu retten, wenn ihr eurer Stärke ge¬ denken wolltet. An andern Orten ängstet mich der Kampf der Trojaner nicht, so herzhaft sich ihre Heeresmacht über die Mauer hereinstürzt; die Vereinigten Achiver werden sie schon abzuwehren wissen. Hier nur, wo der rasende Hektor wie ein Feuerbrand vorherrscht, hier nur bin ich um unsre Rettung bange. Möchte doch ein Gott euch den Gedanken in die Seele geben, hierhin euren Widerstand zu kehren, und auch Andere dazu anzureizen." Zu diesen Worten gab ihnen der Ländererschütterer einen Schlag mit seinem Stabe, davon ihr Muth erhöht und ihre Glie¬ der leicht geschaffen wurden; der Gott aber entschwang sich ihren Blicken, wie ein Habicht, und Ajax, der Sohn des Oileus, erkannte ihn zuerst. "Ajax," sprach er zu seinem Namensbruder, "es war nicht Ralchas, es war Neptun, ich habe ihn von hinten an Gang und Schenkeln erkannt, denn die Götter sind leicht zu erkennen. Jetzt verlangt mich im innersten Herzen nach dem Entscheidungs¬ kampfe, Füße und Hände streben mir nach oben!" Ihm
benetzen, kam Neptunus bei den Schiffen der Danaer, zwiſchen Tenedos und Imbros, in einer tiefen Grotte an, wo er die Roſſe aus dem Geſchirr ſpannte, ihnen die Füße mit goldenen Feſſeln umſchlang, und Ambroſia zur Koſt reichte. Er ſelbſt eilte mitten ins Gewühl der Schlacht, wo ſich die Trojaner wie ein Orkan um Hektor mit brauſendem Geſchrei drängten, und jetzt eben die Schiffe der Griechen zu bemeiſtern hofften. Da geſellte ſich Poſeidon zu den Reihen der Griechen, dem Seher Kalchas an Wuchs und Stimme gleich. Zuerſt rief er den beiden Ajax zu, die für ſich ſelbſt ſchon von Kampf¬ luſt glühten: „Ihr Helden beide vermöchtet wohl das Volk der Griechen zu retten, wenn ihr eurer Stärke ge¬ denken wolltet. An andern Orten ängſtet mich der Kampf der Trojaner nicht, ſo herzhaft ſich ihre Heeresmacht über die Mauer hereinſtürzt; die Vereinigten Achiver werden ſie ſchon abzuwehren wiſſen. Hier nur, wo der raſende Hektor wie ein Feuerbrand vorherrſcht, hier nur bin ich um unſre Rettung bange. Möchte doch ein Gott euch den Gedanken in die Seele geben, hierhin euren Widerſtand zu kehren, und auch Andere dazu anzureizen.” Zu dieſen Worten gab ihnen der Ländererſchütterer einen Schlag mit ſeinem Stabe, davon ihr Muth erhöht und ihre Glie¬ der leicht geſchaffen wurden; der Gott aber entſchwang ſich ihren Blicken, wie ein Habicht, und Ajax, der Sohn des Oïleus, erkannte ihn zuerſt. „Ajax,” ſprach er zu ſeinem Namensbruder, „es war nicht Ralchas, es war Neptun, ich habe ihn von hinten an Gang und Schenkeln erkannt, denn die Götter ſind leicht zu erkennen. Jetzt verlangt mich im innerſten Herzen nach dem Entſcheidungs¬ kampfe, Füße und Hände ſtreben mir nach oben!” Ihm
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benetzen, kam Neptunus bei den Schiffen der Danaer,
zwiſchen Tenedos und Imbros, in einer tiefen Grotte an,
wo er die Roſſe aus dem Geſchirr ſpannte, ihnen die
Füße mit goldenen Feſſeln umſchlang, und Ambroſia zur
Koſt reichte. Er ſelbſt eilte mitten ins Gewühl der
Schlacht, wo ſich die Trojaner wie ein Orkan um Hektor
mit brauſendem Geſchrei drängten, und jetzt eben die
Schiffe der Griechen zu bemeiſtern hofften. Da geſellte
ſich Poſeidon zu den Reihen der Griechen, dem Seher
Kalchas an Wuchs und Stimme gleich. Zuerſt rief er
den beiden Ajax zu, die für ſich ſelbſt ſchon von Kampf¬
luſt glühten: „Ihr Helden beide vermöchtet wohl das
Volk der Griechen zu retten, wenn ihr eurer Stärke ge¬
denken wolltet. An andern Orten ängſtet mich der Kampf
der Trojaner nicht, ſo herzhaft ſich ihre Heeresmacht über
die Mauer hereinſtürzt; die Vereinigten Achiver werden
ſie ſchon abzuwehren wiſſen. Hier nur, wo der raſende
Hektor wie ein Feuerbrand vorherrſcht, hier nur bin ich
um unſre Rettung bange. Möchte doch ein Gott euch den
Gedanken in die Seele geben, hierhin euren Widerſtand
zu kehren, und auch Andere dazu anzureizen.” Zu dieſen
Worten gab ihnen der Ländererſchütterer einen Schlag
mit ſeinem Stabe, davon ihr Muth erhöht und ihre Glie¬
der leicht geſchaffen wurden; der Gott aber entſchwang
ſich ihren Blicken, wie ein Habicht, und Ajax, der Sohn
des Oïleus, erkannte ihn zuerſt. „Ajax,” ſprach er zu
ſeinem Namensbruder, „es war nicht Ralchas, es war
Neptun, ich habe ihn von hinten an Gang und Schenkeln
erkannt, denn die Götter ſind leicht zu erkennen. Jetzt
verlangt mich im innerſten Herzen nach dem Entſcheidungs¬
kampfe, Füße und Hände ſtreben mir nach oben!” Ihm
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/211>, abgerufen am 28.11.2024.
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