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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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Auch werden wir nicht mit kindischen Worten von einan¬
der aus dem Schlachtfelde scheiden; laß uns deswegen
nicht länger hier, gleich albernen Kindern, schwatzend in
der Mitte des Getümmels stehen! die ehernen Kriegs¬
lanzen sind es, die wir einander zu kosten geben wollen."
So sprach er und schwang den Speer zum Wurfe, von dem
der entsetzliche Schild des Achilles ringsum nachhallte; doch
durchstürmte das Geschoß nur die zwei äußeren Schichten
von Erz; die beiden inneren waren von Zinn, und von
der mittleren goldenen wurde die Lanze gehemmt. Jetzt
schwang auch der Pelide seinen Speer; dieser traf den
Schild des Aeneas am äußersten Rande, wo das Erz und
die Stierhaut am dünnsten war; Aeneas duckte sich und
streckte in der Angst den Schild in die Höhe: so sauste ihm
die Lanze, die beiden Schildränder durchfahrend, über die
Schulter hin und bohrte sich aufrecht dicht neben ihm in
den Boden ein, daß den Sohn Aphroditens vor der To¬
desgefahr schwindelte. Und schon rannte Achilles mit
gezücktem Schwerte, laut schreiend, herbei. Da ergriff
Aeneas einen ungeheuren Feldstein, wie ihn zwei jetzige
Sterbliche nicht aufheben könnten; er aber schwang ihn
ganz behende. Hätte er nun mit dem Steine nur des
Gegners Helm oder Schild getroffen, so wäre er unfehlbar
dem Schwert des Peliden erlegen.

Das erbarmte selbst die Götter, die, den Trojanern
abhold, auf dem Herkuleswalle saßen. "Es wäre doch
Schade," sprach Poseidon, "wenn Aeneas, weil er Apollo's
Wort gehorcht hat, zum Hades hinabfahren sollte; auch
fürchte ich, Jupiter könnte zürnen, denn haßt er gleich den
Stamm des Priamus, so will er ihn doch nicht ganz ver¬
tilgen, und durch Aeneas soll das Herrschergeschlecht in

Auch werden wir nicht mit kindiſchen Worten von einan¬
der aus dem Schlachtfelde ſcheiden; laß uns deswegen
nicht länger hier, gleich albernen Kindern, ſchwatzend in
der Mitte des Getümmels ſtehen! die ehernen Kriegs¬
lanzen ſind es, die wir einander zu koſten geben wollen.“
So ſprach er und ſchwang den Speer zum Wurfe, von dem
der entſetzliche Schild des Achilles ringsum nachhallte; doch
durchſtürmte das Geſchoß nur die zwei äußeren Schichten
von Erz; die beiden inneren waren von Zinn, und von
der mittleren goldenen wurde die Lanze gehemmt. Jetzt
ſchwang auch der Pelide ſeinen Speer; dieſer traf den
Schild des Aeneas am äußerſten Rande, wo das Erz und
die Stierhaut am dünnſten war; Aeneas duckte ſich und
ſtreckte in der Angſt den Schild in die Höhe: ſo ſauſte ihm
die Lanze, die beiden Schildränder durchfahrend, über die
Schulter hin und bohrte ſich aufrecht dicht neben ihm in
den Boden ein, daß den Sohn Aphroditens vor der To¬
desgefahr ſchwindelte. Und ſchon rannte Achilles mit
gezücktem Schwerte, laut ſchreiend, herbei. Da ergriff
Aeneas einen ungeheuren Feldſtein, wie ihn zwei jetzige
Sterbliche nicht aufheben könnten; er aber ſchwang ihn
ganz behende. Hätte er nun mit dem Steine nur des
Gegners Helm oder Schild getroffen, ſo wäre er unfehlbar
dem Schwert des Peliden erlegen.

Das erbarmte ſelbſt die Götter, die, den Trojanern
abhold, auf dem Herkuleswalle ſaßen. „Es wäre doch
Schade,“ ſprach Poſeidon, „wenn Aeneas, weil er Apollo's
Wort gehorcht hat, zum Hades hinabfahren ſollte; auch
fürchte ich, Jupiter könnte zürnen, denn haßt er gleich den
Stamm des Priamus, ſo will er ihn doch nicht ganz ver¬
tilgen, und durch Aeneas ſoll das Herrſchergeſchlecht in

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[263/0285] Auch werden wir nicht mit kindiſchen Worten von einan¬ der aus dem Schlachtfelde ſcheiden; laß uns deswegen nicht länger hier, gleich albernen Kindern, ſchwatzend in der Mitte des Getümmels ſtehen! die ehernen Kriegs¬ lanzen ſind es, die wir einander zu koſten geben wollen.“ So ſprach er und ſchwang den Speer zum Wurfe, von dem der entſetzliche Schild des Achilles ringsum nachhallte; doch durchſtürmte das Geſchoß nur die zwei äußeren Schichten von Erz; die beiden inneren waren von Zinn, und von der mittleren goldenen wurde die Lanze gehemmt. Jetzt ſchwang auch der Pelide ſeinen Speer; dieſer traf den Schild des Aeneas am äußerſten Rande, wo das Erz und die Stierhaut am dünnſten war; Aeneas duckte ſich und ſtreckte in der Angſt den Schild in die Höhe: ſo ſauſte ihm die Lanze, die beiden Schildränder durchfahrend, über die Schulter hin und bohrte ſich aufrecht dicht neben ihm in den Boden ein, daß den Sohn Aphroditens vor der To¬ desgefahr ſchwindelte. Und ſchon rannte Achilles mit gezücktem Schwerte, laut ſchreiend, herbei. Da ergriff Aeneas einen ungeheuren Feldſtein, wie ihn zwei jetzige Sterbliche nicht aufheben könnten; er aber ſchwang ihn ganz behende. Hätte er nun mit dem Steine nur des Gegners Helm oder Schild getroffen, ſo wäre er unfehlbar dem Schwert des Peliden erlegen. Das erbarmte ſelbſt die Götter, die, den Trojanern abhold, auf dem Herkuleswalle ſaßen. „Es wäre doch Schade,“ ſprach Poſeidon, „wenn Aeneas, weil er Apollo's Wort gehorcht hat, zum Hades hinabfahren ſollte; auch fürchte ich, Jupiter könnte zürnen, denn haßt er gleich den Stamm des Priamus, ſo will er ihn doch nicht ganz ver¬ tilgen, und durch Aeneas ſoll das Herrſchergeſchlecht in

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/285>, abgerufen am 21.11.2024.