auf den Andern, Keiner schaute sich um, zu sehen, wer gerettet, wer gefallen sey; alle waren nur froh für sich selbst, sich sicher hinter den Mauern zu wissen. Da kühlten sie den Schweiß, löschten den Durst und streckten sich längs der Mauer an der Brustwehr nieder.
Doch die Griechen, Schild an Schulter, wandelten in dichten Schaaren auf die Mauer zu. Von allen Tro¬ janern war nur Hektor ausserhalb des skäischen Thores geblieben, denn sein Schicksal hatte es so geordnet. Achilles aber war immer noch auf der Verfolgung Apollo's begrif¬ fen, den er für Agenor hielt. Da stand plötzlich der Gott stille, wandte sich um, und sprach mit seiner Götter¬ stimme: "Was verfolgst du mich so hartnäckig, Pelide, und vergissest über mich die Verfolgung der Trojaner? Du meinest einen Sterblichen zu jagen, und ranntest einem Gotte nach, den du doch nicht tödten kannst." Da fiel es wie Schuppen von den Augen des Helden, und er rief voll Aerger aus: "Grausamer, trügerischer Gott! daß du mich so von der Mauer hinweglocken konntest! Fürwahr, noch viele hätten mir im Staube knirschen müssen, ehe sie in Ilion einzogen! Du aber hast mir den Siegesruhm geraubt und sie gefahrlos gerettet, denn du hast als ein Gott keine Rache zu fürchten, wie gerne ich mich auch an dir rächen möchte!"
Achilles wandte sich und flog trotzigen Sinnes auf die Stadt zu, wie ein ungestümes, sieggewohntes Roß am Wagen. Ihn erblickte zuerst der greise Priamus, von der Warte des Thurmes herab, auf der der König wieder Platz genommen hatte, und er erschien ihm leuchtend, wie der ausdörrende Hundsstern am Nachthimmel dem Land¬ mann verderbenbringend entgegenfunkelt. Der Greis schlug
auf den Andern, Keiner ſchaute ſich um, zu ſehen, wer gerettet, wer gefallen ſey; alle waren nur froh für ſich ſelbſt, ſich ſicher hinter den Mauern zu wiſſen. Da kühlten ſie den Schweiß, löſchten den Durſt und ſtreckten ſich längs der Mauer an der Bruſtwehr nieder.
Doch die Griechen, Schild an Schulter, wandelten in dichten Schaaren auf die Mauer zu. Von allen Tro¬ janern war nur Hektor auſſerhalb des ſkäiſchen Thores geblieben, denn ſein Schickſal hatte es ſo geordnet. Achilles aber war immer noch auf der Verfolgung Apollo's begrif¬ fen, den er für Agenor hielt. Da ſtand plötzlich der Gott ſtille, wandte ſich um, und ſprach mit ſeiner Götter¬ ſtimme: „Was verfolgſt du mich ſo hartnäckig, Pelide, und vergiſſeſt über mich die Verfolgung der Trojaner? Du meineſt einen Sterblichen zu jagen, und rannteſt einem Gotte nach, den du doch nicht tödten kannſt.“ Da fiel es wie Schuppen von den Augen des Helden, und er rief voll Aerger aus: „Grauſamer, trügeriſcher Gott! daß du mich ſo von der Mauer hinweglocken konnteſt! Fürwahr, noch viele hätten mir im Staube knirſchen müſſen, ehe ſie in Ilion einzogen! Du aber haſt mir den Siegesruhm geraubt und ſie gefahrlos gerettet, denn du haſt als ein Gott keine Rache zu fürchten, wie gerne ich mich auch an dir rächen möchte!“
Achilles wandte ſich und flog trotzigen Sinnes auf die Stadt zu, wie ein ungeſtümes, ſieggewohntes Roß am Wagen. Ihn erblickte zuerſt der greiſe Priamus, von der Warte des Thurmes herab, auf der der König wieder Platz genommen hatte, und er erſchien ihm leuchtend, wie der ausdörrende Hundsſtern am Nachthimmel dem Land¬ mann verderbenbringend entgegenfunkelt. Der Greis ſchlug
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auf den Andern, Keiner ſchaute ſich um, zu ſehen, wer
gerettet, wer gefallen ſey; alle waren nur froh für ſich
ſelbſt, ſich ſicher hinter den Mauern zu wiſſen. Da kühlten
ſie den Schweiß, löſchten den Durſt und ſtreckten ſich
längs der Mauer an der Bruſtwehr nieder.
Doch die Griechen, Schild an Schulter, wandelten
in dichten Schaaren auf die Mauer zu. Von allen Tro¬
janern war nur Hektor auſſerhalb des ſkäiſchen Thores
geblieben, denn ſein Schickſal hatte es ſo geordnet. Achilles
aber war immer noch auf der Verfolgung Apollo's begrif¬
fen, den er für Agenor hielt. Da ſtand plötzlich der
Gott ſtille, wandte ſich um, und ſprach mit ſeiner Götter¬
ſtimme: „Was verfolgſt du mich ſo hartnäckig, Pelide,
und vergiſſeſt über mich die Verfolgung der Trojaner?
Du meineſt einen Sterblichen zu jagen, und rannteſt einem
Gotte nach, den du doch nicht tödten kannſt.“ Da fiel es
wie Schuppen von den Augen des Helden, und er rief
voll Aerger aus: „Grauſamer, trügeriſcher Gott! daß du
mich ſo von der Mauer hinweglocken konnteſt! Fürwahr,
noch viele hätten mir im Staube knirſchen müſſen, ehe ſie
in Ilion einzogen! Du aber haſt mir den Siegesruhm
geraubt und ſie gefahrlos gerettet, denn du haſt als ein
Gott keine Rache zu fürchten, wie gerne ich mich auch an
dir rächen möchte!“
Achilles wandte ſich und flog trotzigen Sinnes auf die
Stadt zu, wie ein ungeſtümes, ſieggewohntes Roß am
Wagen. Ihn erblickte zuerſt der greiſe Priamus, von der
Warte des Thurmes herab, auf der der König wieder
Platz genommen hatte, und er erſchien ihm leuchtend, wie
der ausdörrende Hundsſtern am Nachthimmel dem Land¬
mann verderbenbringend entgegenfunkelt. Der Greis ſchlug
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/301>, abgerufen am 21.11.2024.
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