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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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Da antwortete Priamus: "Heiß mich nicht sitzen,
Liebling des Zeus, so lange Hektor noch unbeerdigt in
deinem Zelte liegt. Erlaß ihn mir eilig, denn mich ver¬
langt, ihn zu schauen. Freue dich der reichlichen Lösung,
schone meiner, und kehre heim in dein Vaterland!"

Achilles runzelte die Stirne bei diesen Worten und
sprach: "Reize mich nicht mehr, o Greis! Ich selbst ja
beabsichtige, dir Hektor zu erlassen, denn meine Mutter
brachte mir Jupiters Botschaft: auch erkenne ich wohl im
Geiste, daß dich selbst, o Priamus, zu unsern Schiffen ein
Gott geführt hat. Denn wie sollte dieß ein Sterblicher,
und wäre es der kühnste Jüngling, wagen, wie unsern
Wächtern entschlüpfen, wie die Riegel der Thore zurück¬
schieben? Darum errege mir mein trauriges Herz nicht
noch mehr, ich möchte sonst Jupiters Befehl vergessen und
deiner nicht schonen, o Greis, so demüthig du flehst!"

Zagend gehorchte Priamus. Achilles aber sprang
wie ein Löwe aus der Pforte, und ihm nach seine Ge¬
nossen. Vor dem Zelte spannten sie die Thiere aus dem
Joch und führten den Herold herein. Dann huben sie
die Lösegeschenke vom Wagen, und ließen nur zwei Män¬
tel und einen Leibrock zurück, um damit die Leiche Hektors
anständig zu verhüllen. Dann ließ Achilles, fern und
ungesehen vom Vater, den Leichnam waschen, salben und
bekleiden. Achilles selbst legte ihn auf ein unterbreitetes
Lager; rief, während die Freunde den Todten auf den
mit Maulthieren bespannten Wagen hoben, den Na¬
men seines Freundes an und sprach: "Zürn' und eifere
mir nicht, Patroklus, wenn du etwa in der Nacht der
Unterwelt vernimmst, daß ich Hektors Leiche seinem Vater

Da antwortete Priamus: „Heiß mich nicht ſitzen,
Liebling des Zeus, ſo lange Hektor noch unbeerdigt in
deinem Zelte liegt. Erlaß ihn mir eilig, denn mich ver¬
langt, ihn zu ſchauen. Freue dich der reichlichen Löſung,
ſchone meiner, und kehre heim in dein Vaterland!“

Achilles runzelte die Stirne bei dieſen Worten und
ſprach: „Reize mich nicht mehr, o Greis! Ich ſelbſt ja
beabſichtige, dir Hektor zu erlaſſen, denn meine Mutter
brachte mir Jupiters Botſchaft: auch erkenne ich wohl im
Geiſte, daß dich ſelbſt, o Priamus, zu unſern Schiffen ein
Gott geführt hat. Denn wie ſollte dieß ein Sterblicher,
und wäre es der kühnſte Jüngling, wagen, wie unſern
Wächtern entſchlüpfen, wie die Riegel der Thore zurück¬
ſchieben? Darum errege mir mein trauriges Herz nicht
noch mehr, ich möchte ſonſt Jupiters Befehl vergeſſen und
deiner nicht ſchonen, o Greis, ſo demüthig du flehſt!“

Zagend gehorchte Priamus. Achilles aber ſprang
wie ein Löwe aus der Pforte, und ihm nach ſeine Ge¬
noſſen. Vor dem Zelte ſpannten ſie die Thiere aus dem
Joch und führten den Herold herein. Dann huben ſie
die Löſegeſchenke vom Wagen, und ließen nur zwei Män¬
tel und einen Leibrock zurück, um damit die Leiche Hektors
anſtändig zu verhüllen. Dann ließ Achilles, fern und
ungeſehen vom Vater, den Leichnam waſchen, ſalben und
bekleiden. Achilles ſelbſt legte ihn auf ein unterbreitetes
Lager; rief, während die Freunde den Todten auf den
mit Maulthieren beſpannten Wagen hoben, den Na¬
men ſeines Freundes an und ſprach: „Zürn' und eifere
mir nicht, Patroklus, wenn du etwa in der Nacht der
Unterwelt vernimmſt, daß ich Hektors Leiche ſeinem Vater

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[309/0331] Da antwortete Priamus: „Heiß mich nicht ſitzen, Liebling des Zeus, ſo lange Hektor noch unbeerdigt in deinem Zelte liegt. Erlaß ihn mir eilig, denn mich ver¬ langt, ihn zu ſchauen. Freue dich der reichlichen Löſung, ſchone meiner, und kehre heim in dein Vaterland!“ Achilles runzelte die Stirne bei dieſen Worten und ſprach: „Reize mich nicht mehr, o Greis! Ich ſelbſt ja beabſichtige, dir Hektor zu erlaſſen, denn meine Mutter brachte mir Jupiters Botſchaft: auch erkenne ich wohl im Geiſte, daß dich ſelbſt, o Priamus, zu unſern Schiffen ein Gott geführt hat. Denn wie ſollte dieß ein Sterblicher, und wäre es der kühnſte Jüngling, wagen, wie unſern Wächtern entſchlüpfen, wie die Riegel der Thore zurück¬ ſchieben? Darum errege mir mein trauriges Herz nicht noch mehr, ich möchte ſonſt Jupiters Befehl vergeſſen und deiner nicht ſchonen, o Greis, ſo demüthig du flehſt!“ Zagend gehorchte Priamus. Achilles aber ſprang wie ein Löwe aus der Pforte, und ihm nach ſeine Ge¬ noſſen. Vor dem Zelte ſpannten ſie die Thiere aus dem Joch und führten den Herold herein. Dann huben ſie die Löſegeſchenke vom Wagen, und ließen nur zwei Män¬ tel und einen Leibrock zurück, um damit die Leiche Hektors anſtändig zu verhüllen. Dann ließ Achilles, fern und ungeſehen vom Vater, den Leichnam waſchen, ſalben und bekleiden. Achilles ſelbſt legte ihn auf ein unterbreitetes Lager; rief, während die Freunde den Todten auf den mit Maulthieren beſpannten Wagen hoben, den Na¬ men ſeines Freundes an und ſprach: „Zürn' und eifere mir nicht, Patroklus, wenn du etwa in der Nacht der Unterwelt vernimmſt, daß ich Hektors Leiche ſeinem Vater

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/331>, abgerufen am 21.11.2024.