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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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rede doch," erwiederte Agamemnon, indem er ihn mit
Verwunderung anblickte, "wohl halte ich dich für meinen
besten Freund im ganzen Argiverheere!" -- "Nun, so
höre mich auch," sprach Odysseus. "Wirf bei den Göttern
diesen Mann nicht ohne Erbarmen und ohne Bestattung
hinaus! Laß dich durch deine Macht nicht zum ungerech¬
ten Hasse verleiten! Bedenke, wenn du einen solchen
Helden schändetest, so würde nicht er dadurch herabgewür¬
diget, sondern das Recht und der Wille der Götter wür¬
den verachtet!" Als die Atriden solches hörten, blieben
sie lange vor Staunen sprachlos. Endlich rief Aga¬
memnon: "Und du, Odysseus, vermagst es über dich, zu
Gunsten dieses Mannes mich zu bekriegen? Bedenkst du
denn gar nicht, daß es dein Todfeind ist, dem du eine so
hohe Gunst verschaffen willst?" -- "Wohl war er mein
Feind," antwortete Odysseus, "und ich haßte ihn, so lange
der Haß noch ziemlich war. Jetzt, wo er gefallen ist und
wir über den Verlust eines so edlen Helden trauern müs¬
sen, kann und darf ich ihn nicht mehr anfeinden. Ich
selbst bin bereit, ihn zu bestatten, und seinem Bruder bei
dieser heiligen Pflicht an die Hand zu gehen."

Als Teucer, der bei Odysseus Ankunft mit Abscheu
auf die Seite getreten war, solches hörte, trat er auf
den Helden zu, seinen Arm zum Handschlag ausgestreckt:

"Edler Mann," rief er, "du, sein größter Feind, bist
die einzige Stütze des Todten! Dennoch wage ich es nicht,
dich zur Berührung dieses Todten zuzulassen, dessen un¬
versöhnt dahingeschiedenem Geiste solches unwillkommen
seyn dürfte. In allem Andern sey mein Helfer; gibt es
doch für deinen Edelmuth noch genug zu thun!" Mit
diesen Worten deutete Teucer aus Tekmessa, die noch

rede doch,“ erwiederte Agamemnon, indem er ihn mit
Verwunderung anblickte, „wohl halte ich dich für meinen
beſten Freund im ganzen Argiverheere!“ — „Nun, ſo
höre mich auch,“ ſprach Odyſſeus. „Wirf bei den Göttern
dieſen Mann nicht ohne Erbarmen und ohne Beſtattung
hinaus! Laß dich durch deine Macht nicht zum ungerech¬
ten Haſſe verleiten! Bedenke, wenn du einen ſolchen
Helden ſchändeteſt, ſo würde nicht er dadurch herabgewür¬
diget, ſondern das Recht und der Wille der Götter wür¬
den verachtet!“ Als die Atriden ſolches hörten, blieben
ſie lange vor Staunen ſprachlos. Endlich rief Aga¬
memnon: „Und du, Odyſſeus, vermagſt es über dich, zu
Gunſten dieſes Mannes mich zu bekriegen? Bedenkſt du
denn gar nicht, daß es dein Todfeind iſt, dem du eine ſo
hohe Gunſt verſchaffen willſt?“ — „Wohl war er mein
Feind,“ antwortete Odyſſeus, „und ich haßte ihn, ſo lange
der Haß noch ziemlich war. Jetzt, wo er gefallen iſt und
wir über den Verluſt eines ſo edlen Helden trauern müſ¬
ſen, kann und darf ich ihn nicht mehr anfeinden. Ich
ſelbſt bin bereit, ihn zu beſtatten, und ſeinem Bruder bei
dieſer heiligen Pflicht an die Hand zu gehen.“

Als Teucer, der bei Odyſſeus Ankunft mit Abſcheu
auf die Seite getreten war, ſolches hörte, trat er auf
den Helden zu, ſeinen Arm zum Handſchlag ausgeſtreckt:

„Edler Mann,“ rief er, „du, ſein größter Feind, biſt
die einzige Stütze des Todten! Dennoch wage ich es nicht,
dich zur Berührung dieſes Todten zuzulaſſen, deſſen un¬
verſöhnt dahingeſchiedenem Geiſte ſolches unwillkommen
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[368/0390] rede doch,“ erwiederte Agamemnon, indem er ihn mit Verwunderung anblickte, „wohl halte ich dich für meinen beſten Freund im ganzen Argiverheere!“ — „Nun, ſo höre mich auch,“ ſprach Odyſſeus. „Wirf bei den Göttern dieſen Mann nicht ohne Erbarmen und ohne Beſtattung hinaus! Laß dich durch deine Macht nicht zum ungerech¬ ten Haſſe verleiten! Bedenke, wenn du einen ſolchen Helden ſchändeteſt, ſo würde nicht er dadurch herabgewür¬ diget, ſondern das Recht und der Wille der Götter wür¬ den verachtet!“ Als die Atriden ſolches hörten, blieben ſie lange vor Staunen ſprachlos. Endlich rief Aga¬ memnon: „Und du, Odyſſeus, vermagſt es über dich, zu Gunſten dieſes Mannes mich zu bekriegen? Bedenkſt du denn gar nicht, daß es dein Todfeind iſt, dem du eine ſo hohe Gunſt verſchaffen willſt?“ — „Wohl war er mein Feind,“ antwortete Odyſſeus, „und ich haßte ihn, ſo lange der Haß noch ziemlich war. Jetzt, wo er gefallen iſt und wir über den Verluſt eines ſo edlen Helden trauern müſ¬ ſen, kann und darf ich ihn nicht mehr anfeinden. Ich ſelbſt bin bereit, ihn zu beſtatten, und ſeinem Bruder bei dieſer heiligen Pflicht an die Hand zu gehen.“ Als Teucer, der bei Odyſſeus Ankunft mit Abſcheu auf die Seite getreten war, ſolches hörte, trat er auf den Helden zu, ſeinen Arm zum Handſchlag ausgeſtreckt: „Edler Mann,“ rief er, „du, ſein größter Feind, biſt die einzige Stütze des Todten! Dennoch wage ich es nicht, dich zur Berührung dieſes Todten zuzulaſſen, deſſen un¬ verſöhnt dahingeſchiedenem Geiſte ſolches unwillkommen ſeyn dürfte. In allem Andern ſey mein Helfer; gibt es doch für deinen Edelmuth noch genug zu thun!“ Mit dieſen Worten deutete Teucer aus Tekmeſſa, die noch

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 368. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/390>, abgerufen am 21.11.2024.