sich an Eurypylus zu rächen. Andre von ihnen legten bei den Schiffen den schönen Nireus und den hochbegabten Arzt und mächtigen Kämpfer Machaon ins Grab. Wäh¬ rend nun in der Ferne die Schlacht wieder tobte, lag Podalirius, der Bruder Machaons, und wie er be¬ rühmt als der trefflichste Arzt im Heere, Trank und Speise verschmähend, im Staub, unter lautem Stöhnen. Er wich nicht vom Grabe seines geliebten Bruders; brütend sann er in seinem Geiste auf Selbstmord, und legte bald die Hand ans Schwert, bald suchte er ein schnellwirkendes Gift, das er selbst gebraut hatte und immer bei sich trug, zu verschlingen. Seine Freunde aber wehrten ihm, und sprachen ihm Trost ein; doch hätte er sich endlich am fri¬ schen Grabhügel seines Bruders getödtet, wenn nicht der greise Nestor dem Verzweifelnden genaht wäre. Dieser traf ihn, wie er sich bald jammernd auf das Grab warf, bald wieder Staub auf sein Haupt streute, sich die Brust mit den nervigen Händen zerschlug und zugleich den Namen des getödteten Bruders ausrief. Schwer lag sein Kummer auf allen Dienern und Gefährten, die ihn um¬ gaben. Da fing Nestor an mit schmeichelnden Worten den Betrübten zu trösten: "Liebes Kind, mach doch dei¬ nem bittern Kummer ein Ende. Es ziemt einem verstän¬ digen Manne nicht, wie ein Weib an dem Grabe eines Todten zu jammern. Deine Klage ruft ihn doch nicht mehr ans Licht; das Feuer hat seinen Leib verzehrt und seine Gebeine ruhen in der Erde. Er schwand, wie er gekommen ist. Du aber trage deinen großen Schmerz, wie ich den meinigen getragen habe, als der Sohn Au¬ rora's mir den Knaben erschlug, der mein liebster war, und seinen Vater liebte, wie keiner meiner Söhne. Als
ſich an Eurypylus zu rächen. Andre von ihnen legten bei den Schiffen den ſchönen Nireus und den hochbegabten Arzt und mächtigen Kämpfer Machaon ins Grab. Wäh¬ rend nun in der Ferne die Schlacht wieder tobte, lag Podalirius, der Bruder Machaons, und wie er be¬ rühmt als der trefflichſte Arzt im Heere, Trank und Speiſe verſchmähend, im Staub, unter lautem Stöhnen. Er wich nicht vom Grabe ſeines geliebten Bruders; brütend ſann er in ſeinem Geiſte auf Selbſtmord, und legte bald die Hand ans Schwert, bald ſuchte er ein ſchnellwirkendes Gift, das er ſelbſt gebraut hatte und immer bei ſich trug, zu verſchlingen. Seine Freunde aber wehrten ihm, und ſprachen ihm Troſt ein; doch hätte er ſich endlich am fri¬ ſchen Grabhügel ſeines Bruders getödtet, wenn nicht der greiſe Neſtor dem Verzweifelnden genaht wäre. Dieſer traf ihn, wie er ſich bald jammernd auf das Grab warf, bald wieder Staub auf ſein Haupt ſtreute, ſich die Bruſt mit den nervigen Händen zerſchlug und zugleich den Namen des getödteten Bruders ausrief. Schwer lag ſein Kummer auf allen Dienern und Gefährten, die ihn um¬ gaben. Da fing Neſtor an mit ſchmeichelnden Worten den Betrübten zu tröſten: „Liebes Kind, mach doch dei¬ nem bittern Kummer ein Ende. Es ziemt einem verſtän¬ digen Manne nicht, wie ein Weib an dem Grabe eines Todten zu jammern. Deine Klage ruft ihn doch nicht mehr ans Licht; das Feuer hat ſeinen Leib verzehrt und ſeine Gebeine ruhen in der Erde. Er ſchwand, wie er gekommen iſt. Du aber trage deinen großen Schmerz, wie ich den meinigen getragen habe, als der Sohn Au¬ rora's mir den Knaben erſchlug, der mein liebſter war, und ſeinen Vater liebte, wie keiner meiner Söhne. Als
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ſich an Eurypylus zu rächen. Andre von ihnen legten bei
den Schiffen den ſchönen Nireus und den hochbegabten
Arzt und mächtigen Kämpfer Machaon ins Grab. Wäh¬
rend nun in der Ferne die Schlacht wieder tobte, lag
Podalirius, der Bruder Machaons, und wie er be¬
rühmt als der trefflichſte Arzt im Heere, Trank und Speiſe
verſchmähend, im Staub, unter lautem Stöhnen. Er wich
nicht vom Grabe ſeines geliebten Bruders; brütend ſann
er in ſeinem Geiſte auf Selbſtmord, und legte bald die
Hand ans Schwert, bald ſuchte er ein ſchnellwirkendes
Gift, das er ſelbſt gebraut hatte und immer bei ſich trug,
zu verſchlingen. Seine Freunde aber wehrten ihm, und
ſprachen ihm Troſt ein; doch hätte er ſich endlich am fri¬
ſchen Grabhügel ſeines Bruders getödtet, wenn nicht der
greiſe Neſtor dem Verzweifelnden genaht wäre. Dieſer
traf ihn, wie er ſich bald jammernd auf das Grab warf,
bald wieder Staub auf ſein Haupt ſtreute, ſich die
Bruſt mit den nervigen Händen zerſchlug und zugleich den
Namen des getödteten Bruders ausrief. Schwer lag ſein
Kummer auf allen Dienern und Gefährten, die ihn um¬
gaben. Da fing Neſtor an mit ſchmeichelnden Worten
den Betrübten zu tröſten: „Liebes Kind, mach doch dei¬
nem bittern Kummer ein Ende. Es ziemt einem verſtän¬
digen Manne nicht, wie ein Weib an dem Grabe eines
Todten zu jammern. Deine Klage ruft ihn doch nicht
mehr ans Licht; das Feuer hat ſeinen Leib verzehrt und
ſeine Gebeine ruhen in der Erde. Er ſchwand, wie er
gekommen iſt. Du aber trage deinen großen Schmerz,
wie ich den meinigen getragen habe, als der Sohn Au¬
rora's mir den Knaben erſchlug, der mein liebſter war,
und ſeinen Vater liebte, wie keiner meiner Söhne. Als
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 373. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/395>, abgerufen am 22.11.2024.
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