Freundin der Griechen, vom Olymp herunter auf das Schlachtfeld eilte. Die Erde und die Wellen des Xanthus erbebten vor ihrer Ankunft, leuchtende Blitze flogen um ihre Waffen, die Schlangen auf ihrem Gorgonenschilde hauchten Feuer. Und während die Sohlen der Göttin auf dem Boden standen, berührte ihr Helm die Wolken; sterb¬ lichen Blicken jedoch blieb sie verborgen. Und jetzt hätte sich ein Zweikampf zwischen den Göttern erhoben, wenn nicht Jupiter mit einem warnenden Donnerschlage sie ge¬ schreckt hätte. Beide erkannten den Willen des Vaters; Mars zog sich nach Thracien zurück, Minerva wandte sich nach Athen; das Schlachtfeld war den Sterblichen wieder überlassen, und jetzt wich die Stärke von den Trojanern: sie flohen in ihre Stadt zurück und die Griechen dräng¬ ten ihnen nach. Von den Mauern herab vertheidigten Jene tapfer ihre Stadt; dennoch hätten die Danaer die Thore erbrochen, wenn nicht Jupiter, der den Willen des Schicksals kannte, die Stadt in Gewölk eingehüllt hätte. Da rieth der weise Nestor den Griechen, sich zurückzuziehen, um ihre Todten zu bestatten und vom Kampf auszuruhen.
Am folgenden Tage sahen die Danaer mit Staunen die Burg von Troja wieder unumwölkt in den blauen Morgenhimmel steigen, und erkannten in dem Nebel des gestrigen Abends das Wunder des Göttervaters. An die¬ sem Tage herrschte Waffenruhe. Die Trojaner benutzten dieselbe, um den Mysier Eurypylus feierlich zu bestatten. Neoptolemus aber besuchte das hohe Grab seines Vaters, küßte die zierliche Säule, die sich darüber erhob, und sprach unter Seufzern und Thränen der Wehmuth: "Auch unter den Todten sey mir gegrüßt, mein Vater, denn nie
Freundin der Griechen, vom Olymp herunter auf das Schlachtfeld eilte. Die Erde und die Wellen des Xanthus erbebten vor ihrer Ankunft, leuchtende Blitze flogen um ihre Waffen, die Schlangen auf ihrem Gorgonenſchilde hauchten Feuer. Und während die Sohlen der Göttin auf dem Boden ſtanden, berührte ihr Helm die Wolken; ſterb¬ lichen Blicken jedoch blieb ſie verborgen. Und jetzt hätte ſich ein Zweikampf zwiſchen den Göttern erhoben, wenn nicht Jupiter mit einem warnenden Donnerſchlage ſie ge¬ ſchreckt hätte. Beide erkannten den Willen des Vaters; Mars zog ſich nach Thracien zurück, Minerva wandte ſich nach Athen; das Schlachtfeld war den Sterblichen wieder überlaſſen, und jetzt wich die Stärke von den Trojanern: ſie flohen in ihre Stadt zurück und die Griechen dräng¬ ten ihnen nach. Von den Mauern herab vertheidigten Jene tapfer ihre Stadt; dennoch hätten die Danaer die Thore erbrochen, wenn nicht Jupiter, der den Willen des Schickſals kannte, die Stadt in Gewölk eingehüllt hätte. Da rieth der weiſe Neſtor den Griechen, ſich zurückzuziehen, um ihre Todten zu beſtatten und vom Kampf auszuruhen.
Am folgenden Tage ſahen die Danaer mit Staunen die Burg von Troja wieder unumwölkt in den blauen Morgenhimmel ſteigen, und erkannten in dem Nebel des geſtrigen Abends das Wunder des Göttervaters. An die¬ ſem Tage herrſchte Waffenruhe. Die Trojaner benutzten dieſelbe, um den Myſier Eurypylus feierlich zu beſtatten. Neoptolemus aber beſuchte das hohe Grab ſeines Vaters, küßte die zierliche Säule, die ſich darüber erhob, und ſprach unter Seufzern und Thränen der Wehmuth: „Auch unter den Todten ſey mir gegrüßt, mein Vater, denn nie
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Freundin der Griechen, vom Olymp herunter auf das
Schlachtfeld eilte. Die Erde und die Wellen des Xanthus
erbebten vor ihrer Ankunft, leuchtende Blitze flogen um
ihre Waffen, die Schlangen auf ihrem Gorgonenſchilde
hauchten Feuer. Und während die Sohlen der Göttin auf
dem Boden ſtanden, berührte ihr Helm die Wolken; ſterb¬
lichen Blicken jedoch blieb ſie verborgen. Und jetzt hätte
ſich ein Zweikampf zwiſchen den Göttern erhoben, wenn
nicht Jupiter mit einem warnenden Donnerſchlage ſie ge¬
ſchreckt hätte. Beide erkannten den Willen des Vaters;
Mars zog ſich nach Thracien zurück, Minerva wandte ſich
nach Athen; das Schlachtfeld war den Sterblichen wieder
überlaſſen, und jetzt wich die Stärke von den Trojanern:
ſie flohen in ihre Stadt zurück und die Griechen dräng¬
ten ihnen nach. Von den Mauern herab vertheidigten
Jene tapfer ihre Stadt; dennoch hätten die Danaer
die Thore erbrochen, wenn nicht Jupiter, der den Willen
des Schickſals kannte, die Stadt in Gewölk eingehüllt
hätte. Da rieth der weiſe Neſtor den Griechen, ſich
zurückzuziehen, um ihre Todten zu beſtatten und vom
Kampf auszuruhen.
Am folgenden Tage ſahen die Danaer mit Staunen
die Burg von Troja wieder unumwölkt in den blauen
Morgenhimmel ſteigen, und erkannten in dem Nebel des
geſtrigen Abends das Wunder des Göttervaters. An die¬
ſem Tage herrſchte Waffenruhe. Die Trojaner benutzten
dieſelbe, um den Myſier Eurypylus feierlich zu beſtatten.
Neoptolemus aber beſuchte das hohe Grab ſeines Vaters,
küßte die zierliche Säule, die ſich darüber erhob, und
ſprach unter Seufzern und Thränen der Wehmuth: „Auch
unter den Todten ſey mir gegrüßt, mein Vater, denn nie
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/404>, abgerufen am 22.11.2024.
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