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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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werde ich dein vergessen! O daß ich dich lebend bei den
Griechen gefunden hätte! So aber hast du dein Kind nie
gesehen, und ich den Vater nicht, so sehr ich mich im Her¬
zen nach dir gesehnt habe! Doch noch lebest du in mir,
und lebst in deinem Speere; beide jagen in der Feldschlacht
den Feinden Schrecken ein, und die Danaer sehen mich
mit freudigen Blicken an und sagen, ich gleiche dir, Vater,
an Gestalt und Thaten!"

So sprach er weinend und kehrte zu den Schiffen zu¬
rück. Den ganzen nächstfolgenden Tag wüthete der Kampf
wieder um die Mauern von Troja; doch gelang es den
Griechen nicht, in die Stadt einzudringen, und an den
Ufern des Skamanders, wo Neoptolemus nicht war, fielen
die Danaer sogar in Schaaren darnieder. Dort hatte der
muthige Sohn des Priamus, Deiphobus, einen glücklichen
Ausfall gewagt, und bedrängte die Belagerer. Auf die
Nachricht davon hieß Neoptolemus seinen Wagenlenker
Automedon die unsterblichen Rosse dorthin treiben. Stau¬
nend sah ihn der trojanische Königssohn nahen. Das
Herz schwankte ihm zwischen dem Entschlusse zu fliehen,
oder dem entsetzlichen Helden entgegenzutreten. Neoptole¬
mus aber rief ihm schon von Weitem zu: "Sohn des
Priamus, wie wüthest du gegen die zitternden Danaer!
Kein Wunder, wenn du dich für den tapfersten Helden
der Erde hältst. Wohlan denn, so versuch' es auch mit
mir!" So rief er und stürmte auf ihn zu wie ein Löwe,
und gewiß hätte er ihn mit sammt dem Wagenlenker dar¬
niedergestreckt, wenn nicht Apollo, in dunkles Gewölke
gehüllt, aus dem Olymp herniedergeeilt wäre, und den
Gefährdeten zur Stadt entrückt hätte, wohin auch die übri¬
gen Trojaner ihm nachflohen. Als Neoptolemus in die

werde ich dein vergeſſen! O daß ich dich lebend bei den
Griechen gefunden hätte! So aber haſt du dein Kind nie
geſehen, und ich den Vater nicht, ſo ſehr ich mich im Her¬
zen nach dir geſehnt habe! Doch noch lebeſt du in mir,
und lebſt in deinem Speere; beide jagen in der Feldſchlacht
den Feinden Schrecken ein, und die Danaer ſehen mich
mit freudigen Blicken an und ſagen, ich gleiche dir, Vater,
an Geſtalt und Thaten!“

So ſprach er weinend und kehrte zu den Schiffen zu¬
rück. Den ganzen nächſtfolgenden Tag wüthete der Kampf
wieder um die Mauern von Troja; doch gelang es den
Griechen nicht, in die Stadt einzudringen, und an den
Ufern des Skamanders, wo Neoptolemus nicht war, fielen
die Danaer ſogar in Schaaren darnieder. Dort hatte der
muthige Sohn des Priamus, Deiphobus, einen glücklichen
Ausfall gewagt, und bedrängte die Belagerer. Auf die
Nachricht davon hieß Neoptolemus ſeinen Wagenlenker
Automedon die unſterblichen Roſſe dorthin treiben. Stau¬
nend ſah ihn der trojaniſche Königsſohn nahen. Das
Herz ſchwankte ihm zwiſchen dem Entſchluſſe zu fliehen,
oder dem entſetzlichen Helden entgegenzutreten. Neoptole¬
mus aber rief ihm ſchon von Weitem zu: „Sohn des
Priamus, wie wütheſt du gegen die zitternden Danaer!
Kein Wunder, wenn du dich für den tapferſten Helden
der Erde hältſt. Wohlan denn, ſo verſuch' es auch mit
mir!“ So rief er und ſtürmte auf ihn zu wie ein Löwe,
und gewiß hätte er ihn mit ſammt dem Wagenlenker dar¬
niedergeſtreckt, wenn nicht Apollo, in dunkles Gewölke
gehüllt, aus dem Olymp herniedergeeilt wäre, und den
Gefährdeten zur Stadt entrückt hätte, wohin auch die übri¬
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[383/0405] werde ich dein vergeſſen! O daß ich dich lebend bei den Griechen gefunden hätte! So aber haſt du dein Kind nie geſehen, und ich den Vater nicht, ſo ſehr ich mich im Her¬ zen nach dir geſehnt habe! Doch noch lebeſt du in mir, und lebſt in deinem Speere; beide jagen in der Feldſchlacht den Feinden Schrecken ein, und die Danaer ſehen mich mit freudigen Blicken an und ſagen, ich gleiche dir, Vater, an Geſtalt und Thaten!“ So ſprach er weinend und kehrte zu den Schiffen zu¬ rück. Den ganzen nächſtfolgenden Tag wüthete der Kampf wieder um die Mauern von Troja; doch gelang es den Griechen nicht, in die Stadt einzudringen, und an den Ufern des Skamanders, wo Neoptolemus nicht war, fielen die Danaer ſogar in Schaaren darnieder. Dort hatte der muthige Sohn des Priamus, Deiphobus, einen glücklichen Ausfall gewagt, und bedrängte die Belagerer. Auf die Nachricht davon hieß Neoptolemus ſeinen Wagenlenker Automedon die unſterblichen Roſſe dorthin treiben. Stau¬ nend ſah ihn der trojaniſche Königsſohn nahen. Das Herz ſchwankte ihm zwiſchen dem Entſchluſſe zu fliehen, oder dem entſetzlichen Helden entgegenzutreten. Neoptole¬ mus aber rief ihm ſchon von Weitem zu: „Sohn des Priamus, wie wütheſt du gegen die zitternden Danaer! Kein Wunder, wenn du dich für den tapferſten Helden der Erde hältſt. Wohlan denn, ſo verſuch' es auch mit mir!“ So rief er und ſtürmte auf ihn zu wie ein Löwe, und gewiß hätte er ihn mit ſammt dem Wagenlenker dar¬ niedergeſtreckt, wenn nicht Apollo, in dunkles Gewölke gehüllt, aus dem Olymp herniedergeeilt wäre, und den Gefährdeten zur Stadt entrückt hätte, wohin auch die übri¬ gen Trojaner ihm nachflohen. Als Neoptolemus in die

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/405>, abgerufen am 22.11.2024.