Schnabel, in den untersten Schiffsraum, wo ich deine Schiffsgenossenschaft am wenigsten quäle! Laß mich nur nicht in dieser schrecklichen Einsamkeit; führe mich als Retter nach deiner Heimath: von dort bis zum Oeta und dem Lande, wo mein Vater wohnte, ist die Fahrt nicht mehr weit. Zwar habe ich oft schon Gelandeten manche herzliche Bitten an ihn mitgegeben, aber Niemand brachte mir Kunde von ihm und er ist wohl schon lange todt; nun, ich wäre froh, wenn ich nur an seinem Grabe ruhen dürfte."
Neoptolemus gab dem kranken Manne, der sich zu seinen Füßen warf, mit schwerem Herzen die unredliche Zusage, und rief: "So bald du willst, laß uns zu Schiffe gehen; möge nur ein Gott uns schnelle Fahrt aus diesem Lande verleihen, nach dem Ziele, das uns angewiesen ist!" Philoktetes sprang auf, so schnell als das Uebel seines Fußes es ihm zuließ, und ergriff mit einem Freudenrufe den Jüngling bei der Hand. In diesem Augenblick er¬ schien der Späher der Helden, als ein griechischer Schiffs¬ herr verkleidet, mit einem andern Schiffer von ihrem Gefolge. Er erzählte, an Neoptolemus gewendet, die erheuchelte Kunde, daß Diomedes und Odysseus auf der Fahrt nach einem gewissen Philoktetes begriffen seyen, den sie, einer Weissagung des Sehers Kalchas zufolge, fan¬ gen und vor Troja bringen müßten, wenn die Stadt erobert werden sollte. Diese Schreckensnachricht warf den Sohn des Pöas ganz dem Neoptolemus in die Arme. Er raffte die heiligen Geschosse des Herkules zusammen, übergab sie dem jungen Helden, der sich zum Träger er¬ bot, und schritt mit ihm unter das Thor der Höhle. Da vermochte sich Neoptolemus nicht länger zu halten,
Schnabel, in den unterſten Schiffsraum, wo ich deine Schiffsgenoſſenſchaft am wenigſten quäle! Laß mich nur nicht in dieſer ſchrecklichen Einſamkeit; führe mich als Retter nach deiner Heimath: von dort bis zum Oeta und dem Lande, wo mein Vater wohnte, iſt die Fahrt nicht mehr weit. Zwar habe ich oft ſchon Gelandeten manche herzliche Bitten an ihn mitgegeben, aber Niemand brachte mir Kunde von ihm und er iſt wohl ſchon lange todt; nun, ich wäre froh, wenn ich nur an ſeinem Grabe ruhen dürfte.“
Neoptolemus gab dem kranken Manne, der ſich zu ſeinen Füßen warf, mit ſchwerem Herzen die unredliche Zuſage, und rief: „So bald du willſt, laß uns zu Schiffe gehen; möge nur ein Gott uns ſchnelle Fahrt aus dieſem Lande verleihen, nach dem Ziele, das uns angewieſen iſt!“ Philoktetes ſprang auf, ſo ſchnell als das Uebel ſeines Fußes es ihm zuließ, und ergriff mit einem Freudenrufe den Jüngling bei der Hand. In dieſem Augenblick er¬ ſchien der Späher der Helden, als ein griechiſcher Schiffs¬ herr verkleidet, mit einem andern Schiffer von ihrem Gefolge. Er erzählte, an Neoptolemus gewendet, die erheuchelte Kunde, daß Diomedes und Odyſſeus auf der Fahrt nach einem gewiſſen Philoktetes begriffen ſeyen, den ſie, einer Weiſſagung des Sehers Kalchas zufolge, fan¬ gen und vor Troja bringen müßten, wenn die Stadt erobert werden ſollte. Dieſe Schreckensnachricht warf den Sohn des Pöas ganz dem Neoptolemus in die Arme. Er raffte die heiligen Geſchoſſe des Herkules zuſammen, übergab ſie dem jungen Helden, der ſich zum Träger er¬ bot, und ſchritt mit ihm unter das Thor der Höhle. Da vermochte ſich Neoptolemus nicht länger zu halten,
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Schnabel, in den unterſten Schiffsraum, wo ich deine
Schiffsgenoſſenſchaft am wenigſten quäle! Laß mich nur
nicht in dieſer ſchrecklichen Einſamkeit; führe mich als
Retter nach deiner Heimath: von dort bis zum Oeta und
dem Lande, wo mein Vater wohnte, iſt die Fahrt nicht
mehr weit. Zwar habe ich oft ſchon Gelandeten manche
herzliche Bitten an ihn mitgegeben, aber Niemand brachte
mir Kunde von ihm und er iſt wohl ſchon lange todt;
nun, ich wäre froh, wenn ich nur an ſeinem Grabe ruhen
dürfte.“
Neoptolemus gab dem kranken Manne, der ſich zu
ſeinen Füßen warf, mit ſchwerem Herzen die unredliche
Zuſage, und rief: „So bald du willſt, laß uns zu Schiffe
gehen; möge nur ein Gott uns ſchnelle Fahrt aus dieſem
Lande verleihen, nach dem Ziele, das uns angewieſen iſt!“
Philoktetes ſprang auf, ſo ſchnell als das Uebel ſeines
Fußes es ihm zuließ, und ergriff mit einem Freudenrufe
den Jüngling bei der Hand. In dieſem Augenblick er¬
ſchien der Späher der Helden, als ein griechiſcher Schiffs¬
herr verkleidet, mit einem andern Schiffer von ihrem
Gefolge. Er erzählte, an Neoptolemus gewendet, die
erheuchelte Kunde, daß Diomedes und Odyſſeus auf der
Fahrt nach einem gewiſſen Philoktetes begriffen ſeyen, den
ſie, einer Weiſſagung des Sehers Kalchas zufolge, fan¬
gen und vor Troja bringen müßten, wenn die Stadt
erobert werden ſollte. Dieſe Schreckensnachricht warf den
Sohn des Pöas ganz dem Neoptolemus in die Arme.
Er raffte die heiligen Geſchoſſe des Herkules zuſammen,
übergab ſie dem jungen Helden, der ſich zum Träger er¬
bot, und ſchritt mit ihm unter das Thor der Höhle.
Da vermochte ſich Neoptolemus nicht länger zu halten,
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/411>, abgerufen am 22.11.2024.
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