die Wahrheit siegte in dem reinen Herzen des jungen Helden über die Lüge, und ehe sie am Ufer angekommen waren, sprach er: "Philoktetes, ich kann es dir nicht län¬ ger verbergen: du mußt mit mir nach Troja zu den Atri¬ den und Griechen schiffen!" Philoktetes bebte zurück, flehte, fluchte. Ehe aber das Mitleid ganz die Oberhand über die Seele des Jünglings gewann, sprang Odysseus aus dem Gebüsche, das ihn verborgen hielt, hervor und befahl den Dienern, den unglücklichen alten Helden, der doch schon ihr Gefangener sey, zu fesseln. Philoktetes hatte ihn auf den ersten Laut erkannt. "O wehe mir," rief er, "ich bin verkauft, ermordet! Dieser ist's, der mich ausgesetzt hat, der mich jetzt dahinschleppt, durch dessen Trug mir meine Pfeile gestohlen sind!" "Gutes Kind," sprach er dann schmeichelnd zu Neoptolemus, "gib du mir Bogen und Pfeile wieder!" Aber Odysseus fiel ihm in die Rede: "Nie geschieht solches," rief er, "und wollte es der Jüngling auch; sondern du mußt mit uns gehen, du mußt; es gilt der Griechen Heil und Troja's Untergang!" Damit überließ ihn Odysseus den ihn fes¬ selnden Dienern und zog den verstummten Neoptolemus mit sich fort. Philoktetes blieb mit den Dienern im Ein¬ gange der Höhle stehen, klagte über den schamlosen Betrug und schien umsonst die Rache der Götter anzu¬ rufen, als er plötzlich die beiden Helden, im Wortwechsel mit einander, zurückkehren sah, und aus der Ferne ver¬ nehmlich die Worte des jüngeren vernahm, welcher zür¬ nend ausrief: "Nein, ich habe gefehlt, ich habe durch schnöde List einen edlen Mann verstrickt! Ich will sie ungeschehen machen, die schnöde That, und eh' du mich getödtet hast, führest du diesen Mann nicht gen Troja!"
die Wahrheit ſiegte in dem reinen Herzen des jungen Helden über die Lüge, und ehe ſie am Ufer angekommen waren, ſprach er: „Philoktetes, ich kann es dir nicht län¬ ger verbergen: du mußt mit mir nach Troja zu den Atri¬ den und Griechen ſchiffen!“ Philoktetes bebte zurück, flehte, fluchte. Ehe aber das Mitleid ganz die Oberhand über die Seele des Jünglings gewann, ſprang Odyſſeus aus dem Gebüſche, das ihn verborgen hielt, hervor und befahl den Dienern, den unglücklichen alten Helden, der doch ſchon ihr Gefangener ſey, zu feſſeln. Philoktetes hatte ihn auf den erſten Laut erkannt. „O wehe mir,“ rief er, „ich bin verkauft, ermordet! Dieſer iſt's, der mich ausgeſetzt hat, der mich jetzt dahinſchleppt, durch deſſen Trug mir meine Pfeile geſtohlen ſind!“ „Gutes Kind,“ ſprach er dann ſchmeichelnd zu Neoptolemus, „gib du mir Bogen und Pfeile wieder!“ Aber Odyſſeus fiel ihm in die Rede: „Nie geſchieht ſolches,“ rief er, „und wollte es der Jüngling auch; ſondern du mußt mit uns gehen, du mußt; es gilt der Griechen Heil und Troja's Untergang!“ Damit überließ ihn Odyſſeus den ihn feſ¬ ſelnden Dienern und zog den verſtummten Neoptolemus mit ſich fort. Philoktetes blieb mit den Dienern im Ein¬ gange der Höhle ſtehen, klagte über den ſchamloſen Betrug und ſchien umſonſt die Rache der Götter anzu¬ rufen, als er plötzlich die beiden Helden, im Wortwechſel mit einander, zurückkehren ſah, und aus der Ferne ver¬ nehmlich die Worte des jüngeren vernahm, welcher zür¬ nend ausrief: „Nein, ich habe gefehlt, ich habe durch ſchnöde Liſt einen edlen Mann verſtrickt! Ich will ſie ungeſchehen machen, die ſchnöde That, und eh' du mich getödtet haſt, führeſt du dieſen Mann nicht gen Troja!“
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die Wahrheit ſiegte in dem reinen Herzen des jungen
Helden über die Lüge, und ehe ſie am Ufer angekommen
waren, ſprach er: „Philoktetes, ich kann es dir nicht län¬
ger verbergen: du mußt mit mir nach Troja zu den Atri¬
den und Griechen ſchiffen!“ Philoktetes bebte zurück,
flehte, fluchte. Ehe aber das Mitleid ganz die Oberhand
über die Seele des Jünglings gewann, ſprang Odyſſeus
aus dem Gebüſche, das ihn verborgen hielt, hervor und
befahl den Dienern, den unglücklichen alten Helden, der
doch ſchon ihr Gefangener ſey, zu feſſeln. Philoktetes
hatte ihn auf den erſten Laut erkannt. „O wehe mir,“
rief er, „ich bin verkauft, ermordet! Dieſer iſt's, der
mich ausgeſetzt hat, der mich jetzt dahinſchleppt, durch
deſſen Trug mir meine Pfeile geſtohlen ſind!“ „Gutes
Kind,“ ſprach er dann ſchmeichelnd zu Neoptolemus, „gib
du mir Bogen und Pfeile wieder!“ Aber Odyſſeus fiel
ihm in die Rede: „Nie geſchieht ſolches,“ rief er, „und
wollte es der Jüngling auch; ſondern du mußt mit uns
gehen, du mußt; es gilt der Griechen Heil und Troja's
Untergang!“ Damit überließ ihn Odyſſeus den ihn feſ¬
ſelnden Dienern und zog den verſtummten Neoptolemus
mit ſich fort. Philoktetes blieb mit den Dienern im Ein¬
gange der Höhle ſtehen, klagte über den ſchamloſen
Betrug und ſchien umſonſt die Rache der Götter anzu¬
rufen, als er plötzlich die beiden Helden, im Wortwechſel
mit einander, zurückkehren ſah, und aus der Ferne ver¬
nehmlich die Worte des jüngeren vernahm, welcher zür¬
nend ausrief: „Nein, ich habe gefehlt, ich habe durch
ſchnöde Liſt einen edlen Mann verſtrickt! Ich will ſie
ungeſchehen machen, die ſchnöde That, und eh' du mich
getödtet haſt, führeſt du dieſen Mann nicht gen Troja!“
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 390. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/412>, abgerufen am 22.11.2024.
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