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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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Klytämnestra nach Mycene eine briefliche Botschaft, welche
ihr befahl, die Tochter Iphigenia zum Heere nach Aulis zu
senden, und bediente sich, um diesem Gebote Gehorsam zu
verschaffen, des in der Noth erdichteten Vorwandes, die
Tochter solle, noch bevor das Heer der trojanischen Küste
zusegle, mit dem jungen Sohne des Peleus, dem herr¬
lichen Phthierfürsten Achilles, von dessen geheimer Ver¬
mählung mit Deidamia Niemand wußte, verlobt wer¬
den. Kaum aber war der Bote fort, so bekam in Aga¬
memnons Herzen das Vatergefühl wieder die Oberhand.
Von Sorgen gequält und voll Reue über den unüberlegten
Entschluß, rief er noch in der Nacht einen alten, ver¬
trauten Diener, und übergab ihm einen Brief an seine
Gemahlin Klytämnestra zur Bestellung; in diesem stand
geschrieben, sie sollte die Tochter nicht nach Aulis schicken, er,
der Vater, habe sich eines andern besonnen, die Vermäh¬
lung müsse bis aufs nächste Frühjahr aufgeschoben werden.
Der treue Diener eilte mit dem Briefe davon, aber er
erreichte sein Ziel nicht. Noch ehe er vor der Morgen¬
dämmerung das Lager verließ, ward er von Menelaus,
dem die Unschlüssigkeit des Bruders nicht entgangen war,
der ebendeßwegen alle seine Schritte überwacht hatte, ergriffen,
der Brief ihm mit Gewalt entrissen und sofort von dem
jüngern Atriden erbrochen. Das Blatt in der Hand trat
Menelaus abermals in das Feldherrnzelt des Bruders.
"Es gibt doch," rief er ihm unwillig entgegen, "nichts
Ungerechteres und Ungetreueres, als den Wankelmuth!
Erinnerst du dich denn gar nicht mehr, Bruder, wie begie¬
rig du nach dieser Feldherrnwürde warest, wie du vor
übelverheimlichter Lust branntest, das Heer vor Troja zu
führen? wie demüthig du dich da gegen alle griechischen

Klytämneſtra nach Mycene eine briefliche Botſchaft, welche
ihr befahl, die Tochter Iphigenia zum Heere nach Aulis zu
ſenden, und bediente ſich, um dieſem Gebote Gehorſam zu
verſchaffen, des in der Noth erdichteten Vorwandes, die
Tochter ſolle, noch bevor das Heer der trojaniſchen Küſte
zuſegle, mit dem jungen Sohne des Peleus, dem herr¬
lichen Phthierfürſten Achilles, von deſſen geheimer Ver¬
mählung mit Dëidamia Niemand wußte, verlobt wer¬
den. Kaum aber war der Bote fort, ſo bekam in Aga¬
memnons Herzen das Vatergefühl wieder die Oberhand.
Von Sorgen gequält und voll Reue über den unüberlegten
Entſchluß, rief er noch in der Nacht einen alten, ver¬
trauten Diener, und übergab ihm einen Brief an ſeine
Gemahlin Klytämneſtra zur Beſtellung; in dieſem ſtand
geſchrieben, ſie ſollte die Tochter nicht nach Aulis ſchicken, er,
der Vater, habe ſich eines andern beſonnen, die Vermäh¬
lung müſſe bis aufs nächſte Frühjahr aufgeſchoben werden.
Der treue Diener eilte mit dem Briefe davon, aber er
erreichte ſein Ziel nicht. Noch ehe er vor der Morgen¬
dämmerung das Lager verließ, ward er von Menelaus,
dem die Unſchlüſſigkeit des Bruders nicht entgangen war,
der ebendeßwegen alle ſeine Schritte überwacht hatte, ergriffen,
der Brief ihm mit Gewalt entriſſen und ſofort von dem
jüngern Atriden erbrochen. Das Blatt in der Hand trat
Menelaus abermals in das Feldherrnzelt des Bruders.
„Es gibt doch,“ rief er ihm unwillig entgegen, „nichts
Ungerechteres und Ungetreueres, als den Wankelmuth!
Erinnerſt du dich denn gar nicht mehr, Bruder, wie begie¬
rig du nach dieſer Feldherrnwürde wareſt, wie du vor
übelverheimlichter Luſt brannteſt, das Heer vor Troja zu
führen? wie demüthig du dich da gegen alle griechiſchen

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[31/0053] Klytämneſtra nach Mycene eine briefliche Botſchaft, welche ihr befahl, die Tochter Iphigenia zum Heere nach Aulis zu ſenden, und bediente ſich, um dieſem Gebote Gehorſam zu verſchaffen, des in der Noth erdichteten Vorwandes, die Tochter ſolle, noch bevor das Heer der trojaniſchen Küſte zuſegle, mit dem jungen Sohne des Peleus, dem herr¬ lichen Phthierfürſten Achilles, von deſſen geheimer Ver¬ mählung mit Dëidamia Niemand wußte, verlobt wer¬ den. Kaum aber war der Bote fort, ſo bekam in Aga¬ memnons Herzen das Vatergefühl wieder die Oberhand. Von Sorgen gequält und voll Reue über den unüberlegten Entſchluß, rief er noch in der Nacht einen alten, ver¬ trauten Diener, und übergab ihm einen Brief an ſeine Gemahlin Klytämneſtra zur Beſtellung; in dieſem ſtand geſchrieben, ſie ſollte die Tochter nicht nach Aulis ſchicken, er, der Vater, habe ſich eines andern beſonnen, die Vermäh¬ lung müſſe bis aufs nächſte Frühjahr aufgeſchoben werden. Der treue Diener eilte mit dem Briefe davon, aber er erreichte ſein Ziel nicht. Noch ehe er vor der Morgen¬ dämmerung das Lager verließ, ward er von Menelaus, dem die Unſchlüſſigkeit des Bruders nicht entgangen war, der ebendeßwegen alle ſeine Schritte überwacht hatte, ergriffen, der Brief ihm mit Gewalt entriſſen und ſofort von dem jüngern Atriden erbrochen. Das Blatt in der Hand trat Menelaus abermals in das Feldherrnzelt des Bruders. „Es gibt doch,“ rief er ihm unwillig entgegen, „nichts Ungerechteres und Ungetreueres, als den Wankelmuth! Erinnerſt du dich denn gar nicht mehr, Bruder, wie begie¬ rig du nach dieſer Feldherrnwürde wareſt, wie du vor übelverheimlichter Luſt brannteſt, das Heer vor Troja zu führen? wie demüthig du dich da gegen alle griechiſchen

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/53>, abgerufen am 30.04.2024.