vernichtet!" Menelaus dagegen schwor ihm, von der alten Forderung abstehen zu wollen; ja er ermahnte ihn selbst jetzt, sein Kind nicht zu tödten, und erklärte einen guten Bruder um Helena's willen nicht verderben und nicht ver¬ lieren zu wollen. "Bade doch dein Angesicht nicht länger in Thränen," rief er. "Giebt der Götterspruch mir Antheil an deiner Tochter, so wisse, daß ich denselben ausschlage und meinen Theil dir abtrete! Wundre dich nicht, daß ich von der Heftigkeit meiner natürlichen Gemüthsart um¬ gekehrt bin zur Bruderliebe; denn Biedermanns Weise ist es, der bessern Ueberzeugung zu folgen, sobald sie in unserm Herzen die Oberhand gewinnt!"
Agamemnon warf sich dem Bruder in den Arm, doch ohne über das Geschick seiner Tochter beruhigt zu seyn. "Ich danke dir," sprach er, "lieber Bruder, daß uns gegen Verhoffen dein edler Sinn wieder zusammengeführt hat. Ueber mich aber hat das Schicksal entschieden. Der blutige Tod der Tochter muß vollzogen seyn: das ganze Griechen¬ heer verlangt ihn; Kalchas und der schlaue Odysseus sind einverstanden; sie werden das Volk auf ihrer Seite haben, dich und mich ermorden und mein Töchterlein abschlachten lassen. Und flöhen wir gen Argos, glaube mir, sie kämen, und rissen uns aus den Mauern hervor, und schleiften die alte Cyklopenstadt! Deßwegen beschränke dich darauf, Bru¬ der, wenn du in das Lager kommst, darüber zu wachen, daß meine Gemahlin Klytämnestra nichts erfahre, bis daß mein und ihr Kind dem Orakelspruch erlegen ist!"
Die herannahenden Frauen unterbrachen das Gespräch der Brüder, und Menelaus entfernte sich in trüben Gedanken.
Die Begrüßung der beiden Gatten war kurz und von Agamemnons Seite frostig und verlegen; die Tochter aber
vernichtet!“ Menelaus dagegen ſchwor ihm, von der alten Forderung abſtehen zu wollen; ja er ermahnte ihn ſelbſt jetzt, ſein Kind nicht zu tödten, und erklärte einen guten Bruder um Helena's willen nicht verderben und nicht ver¬ lieren zu wollen. „Bade doch dein Angeſicht nicht länger in Thränen,“ rief er. „Giebt der Götterſpruch mir Antheil an deiner Tochter, ſo wiſſe, daß ich denſelben ausſchlage und meinen Theil dir abtrete! Wundre dich nicht, daß ich von der Heftigkeit meiner natürlichen Gemüthsart um¬ gekehrt bin zur Bruderliebe; denn Biedermanns Weiſe iſt es, der beſſern Ueberzeugung zu folgen, ſobald ſie in unſerm Herzen die Oberhand gewinnt!“
Agamemnon warf ſich dem Bruder in den Arm, doch ohne über das Geſchick ſeiner Tochter beruhigt zu ſeyn. „Ich danke dir,“ ſprach er, „lieber Bruder, daß uns gegen Verhoffen dein edler Sinn wieder zuſammengeführt hat. Ueber mich aber hat das Schickſal entſchieden. Der blutige Tod der Tochter muß vollzogen ſeyn: das ganze Griechen¬ heer verlangt ihn; Kalchas und der ſchlaue Odyſſeus ſind einverſtanden; ſie werden das Volk auf ihrer Seite haben, dich und mich ermorden und mein Töchterlein abſchlachten laſſen. Und flöhen wir gen Argos, glaube mir, ſie kämen, und riſſen uns aus den Mauern hervor, und ſchleiften die alte Cyklopenſtadt! Deßwegen beſchränke dich darauf, Bru¬ der, wenn du in das Lager kommſt, darüber zu wachen, daß meine Gemahlin Klytämneſtra nichts erfahre, bis daß mein und ihr Kind dem Orakelſpruch erlegen iſt!“
Die herannahenden Frauen unterbrachen das Geſpräch der Brüder, und Menelaus entfernte ſich in trüben Gedanken.
Die Begrüßung der beiden Gatten war kurz und von Agamemnons Seite froſtig und verlegen; die Tochter aber
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vernichtet!“ Menelaus dagegen ſchwor ihm, von der alten
Forderung abſtehen zu wollen; ja er ermahnte ihn ſelbſt
jetzt, ſein Kind nicht zu tödten, und erklärte einen guten
Bruder um Helena's willen nicht verderben und nicht ver¬
lieren zu wollen. „Bade doch dein Angeſicht nicht länger
in Thränen,“ rief er. „Giebt der Götterſpruch mir Antheil
an deiner Tochter, ſo wiſſe, daß ich denſelben ausſchlage
und meinen Theil dir abtrete! Wundre dich nicht, daß
ich von der Heftigkeit meiner natürlichen Gemüthsart um¬
gekehrt bin zur Bruderliebe; denn Biedermanns Weiſe iſt
es, der beſſern Ueberzeugung zu folgen, ſobald ſie in
unſerm Herzen die Oberhand gewinnt!“
Agamemnon warf ſich dem Bruder in den Arm, doch
ohne über das Geſchick ſeiner Tochter beruhigt zu ſeyn.
„Ich danke dir,“ ſprach er, „lieber Bruder, daß uns gegen
Verhoffen dein edler Sinn wieder zuſammengeführt hat.
Ueber mich aber hat das Schickſal entſchieden. Der blutige
Tod der Tochter muß vollzogen ſeyn: das ganze Griechen¬
heer verlangt ihn; Kalchas und der ſchlaue Odyſſeus ſind
einverſtanden; ſie werden das Volk auf ihrer Seite haben,
dich und mich ermorden und mein Töchterlein abſchlachten
laſſen. Und flöhen wir gen Argos, glaube mir, ſie kämen,
und riſſen uns aus den Mauern hervor, und ſchleiften die
alte Cyklopenſtadt! Deßwegen beſchränke dich darauf, Bru¬
der, wenn du in das Lager kommſt, darüber zu wachen,
daß meine Gemahlin Klytämneſtra nichts erfahre, bis daß
mein und ihr Kind dem Orakelſpruch erlegen iſt!“
Die herannahenden Frauen unterbrachen das Geſpräch
der Brüder, und Menelaus entfernte ſich in trüben Gedanken.
Die Begrüßung der beiden Gatten war kurz und von
Agamemnons Seite froſtig und verlegen; die Tochter aber
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/56>, abgerufen am 23.11.2024.
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