umschlang den Vater mit kindlicher Zuversicht und rief: "O Vater, wie entzückt mich dein lange entbehrtes Ange¬ sicht!" Als sie ihm hierauf näher in sein sorgenvolles Auge sah, fragte sie zutraulich: "Warum ist dein Blick so un¬ ruhig, Vater, wenn du mich doch gerne siehst?" "Laß das, Töchterchen," erwiederte der Fürst mit beklommenem Her¬ zen, "den König und den Fürsten kümmert gar vielerlei!" -- "So verbanne doch diese Furchen," sprach Iphigenia, "und schlage ein liebendes Auge zu deiner Tochter auf! Warum ist es denn so von Thränen angefeuchtet?" -- "Weil uns eine lange Trennung bevorsteht," erwiederte der Vater. -- "O wie glücklich wäre ich," rief das Mädchen, "wenn ich deine Schiffsgefährtin seyn dürfte!" -- "Nun, auch du wirst eine Fahrt anzutreten haben," sagte Aga¬ memnon ernst, "zuvor aber opfern wir noch -- ein Opfer, bei dem du nicht fehlen wirst, liebe Tochter!" Die letzten Worte erstickten unter Thränen, und er schickte das ahnungslose Kind in das für sie bereitgehaltene Zelt zu den Jungfrauen, die in ihrem Gefolge gekommen waren. Mit der Mutter mußte der Atride seine Unwahr¬ heit fortsetzen, und die fragende, neugierige Fürstin über Geschlecht und Verhältnisse des ihr zugedachten Bräutigams unterhalten. Nachdem sich Agamemnon von der Gemahlin losgemacht, begab er sich zu dem Seher Kalchas, um mit diesem das Nähere wegen des unvermeidlichen Opfers zu verabreden.
Derweilen mußte der tückische Zufall Klytämnestra im Lager mit dem jungen Fürsten Achilles, der den Heerführer Agamemnon aufsuchte, weil seine Myrmidonen den längern Verzug nicht ertragen wollten, zusammenführen, und sie nahm keinen Anstand, ihn als den künftigen Eydam
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umſchlang den Vater mit kindlicher Zuverſicht und rief: „O Vater, wie entzückt mich dein lange entbehrtes Ange¬ ſicht!“ Als ſie ihm hierauf näher in ſein ſorgenvolles Auge ſah, fragte ſie zutraulich: „Warum iſt dein Blick ſo un¬ ruhig, Vater, wenn du mich doch gerne ſiehſt?“ „Laß das, Töchterchen,“ erwiederte der Fürſt mit beklommenem Her¬ zen, „den König und den Fürſten kümmert gar vielerlei!“ — „So verbanne doch dieſe Furchen,“ ſprach Iphigenia, „und ſchlage ein liebendes Auge zu deiner Tochter auf! Warum iſt es denn ſo von Thränen angefeuchtet?“ — „Weil uns eine lange Trennung bevorſteht,“ erwiederte der Vater. — „O wie glücklich wäre ich,“ rief das Mädchen, „wenn ich deine Schiffsgefährtin ſeyn dürfte!“ — „Nun, auch du wirſt eine Fahrt anzutreten haben,“ ſagte Aga¬ memnon ernſt, „zuvor aber opfern wir noch — ein Opfer, bei dem du nicht fehlen wirſt, liebe Tochter!“ Die letzten Worte erſtickten unter Thränen, und er ſchickte das ahnungsloſe Kind in das für ſie bereitgehaltene Zelt zu den Jungfrauen, die in ihrem Gefolge gekommen waren. Mit der Mutter mußte der Atride ſeine Unwahr¬ heit fortſetzen, und die fragende, neugierige Fürſtin über Geſchlecht und Verhältniſſe des ihr zugedachten Bräutigams unterhalten. Nachdem ſich Agamemnon von der Gemahlin losgemacht, begab er ſich zu dem Seher Kalchas, um mit dieſem das Nähere wegen des unvermeidlichen Opfers zu verabreden.
Derweilen mußte der tückiſche Zufall Klytämneſtra im Lager mit dem jungen Fürſten Achilles, der den Heerführer Agamemnon aufſuchte, weil ſeine Myrmidonen den längern Verzug nicht ertragen wollten, zuſammenführen, und ſie nahm keinen Anſtand, ihn als den künftigen Eydam
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umſchlang den Vater mit kindlicher Zuverſicht und rief:
„O Vater, wie entzückt mich dein lange entbehrtes Ange¬
ſicht!“ Als ſie ihm hierauf näher in ſein ſorgenvolles Auge
ſah, fragte ſie zutraulich: „Warum iſt dein Blick ſo un¬
ruhig, Vater, wenn du mich doch gerne ſiehſt?“ „Laß das,
Töchterchen,“ erwiederte der Fürſt mit beklommenem Her¬
zen, „den König und den Fürſten kümmert gar vielerlei!“
— „So verbanne doch dieſe Furchen,“ ſprach Iphigenia,
„und ſchlage ein liebendes Auge zu deiner Tochter auf!
Warum iſt es denn ſo von Thränen angefeuchtet?“ —
„Weil uns eine lange Trennung bevorſteht,“ erwiederte
der Vater. — „O wie glücklich wäre ich,“ rief das Mädchen,
„wenn ich deine Schiffsgefährtin ſeyn dürfte!“ — „Nun,
auch du wirſt eine Fahrt anzutreten haben,“ ſagte Aga¬
memnon ernſt, „zuvor aber opfern wir noch — ein
Opfer, bei dem du nicht fehlen wirſt, liebe Tochter!“
Die letzten Worte erſtickten unter Thränen, und er ſchickte
das ahnungsloſe Kind in das für ſie bereitgehaltene Zelt
zu den Jungfrauen, die in ihrem Gefolge gekommen
waren. Mit der Mutter mußte der Atride ſeine Unwahr¬
heit fortſetzen, und die fragende, neugierige Fürſtin über
Geſchlecht und Verhältniſſe des ihr zugedachten Bräutigams
unterhalten. Nachdem ſich Agamemnon von der Gemahlin
losgemacht, begab er ſich zu dem Seher Kalchas, um mit
dieſem das Nähere wegen des unvermeidlichen Opfers zu
verabreden.
Derweilen mußte der tückiſche Zufall Klytämneſtra im
Lager mit dem jungen Fürſten Achilles, der den Heerführer
Agamemnon aufſuchte, weil ſeine Myrmidonen den längern
Verzug nicht ertragen wollten, zuſammenführen, und ſie
nahm keinen Anſtand, ihn als den künftigen Eydam
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/57>, abgerufen am 23.11.2024.
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