Noch an demselben Tage ging die Flotte der Griechen unter Segel, und der günstigste Fahrwind führte sie schnell auf die hohe See. Nach einer kurzen Fahrt landeten sie auf der kleinen Insel Chryse, um frisches Wasser einzu¬ nehmen. Hier entdeckte Philoktetes, der Sohn des Kö¬ niges Pöas aus Meliböa in Thessalien, der erprobte Held und Waffengefährte des Herkules, der Erbe seiner unüberwindlichen Pfeile, einen verfallenen Altar, welchen einst der Argonaute Jason auf seiner Fahrt der Göttin Pallas Athene, der die Insel heilig war, geweihet hatte. Der fromme Held freute sich seines Fundes und wollte der Beschirmerin der Griechen auf ihrem verlassenen Hei¬ ligthume opfern. Da schoß eine giftige Natter, dergleichen die Heiligthümer der Götter zu bewachen pflegten, auf den Herantretenden zu, und verwundete den Helden mit ihrem Biß am Fuße. Erkrankt wurde er wie¬ der zu Schiffe gebracht und die Flotte segelte weiter. Die giftige und stets weiter fressende Wunde aber pei¬ nigte den Sohn des Pöas mit unerträglicher Qual, und seine Schiffsgenossen konnten den übeln Geruch des eitern¬ den Geschwüres und sein beständiges Jammergeschrei nicht länger aushalten. Keine Spende, kein Opfer vermochten sie ruhig darzubringen; in Alles mischte sich sein unheiliger Angstruf. Endlich traten die Söhne des Atreus mit dem verschlagenen Odysseus zusammen, denn die Unzufrieden¬ heit der Begleiter des kranken Helden fing an, sich durch das ganze Heer zu verbreiten, welches fürchtete,
Abfahrt der Griechen. Ausſetzung des Philoktetes.
Noch an demſelben Tage ging die Flotte der Griechen unter Segel, und der günſtigſte Fahrwind führte ſie ſchnell auf die hohe See. Nach einer kurzen Fahrt landeten ſie auf der kleinen Inſel Chryſe, um friſches Waſſer einzu¬ nehmen. Hier entdeckte Philoktetes, der Sohn des Kö¬ niges Pöas aus Meliböa in Theſſalien, der erprobte Held und Waffengefährte des Herkules, der Erbe ſeiner unüberwindlichen Pfeile, einen verfallenen Altar, welchen einſt der Argonaute Jaſon auf ſeiner Fahrt der Göttin Pallas Athene, der die Inſel heilig war, geweihet hatte. Der fromme Held freute ſich ſeines Fundes und wollte der Beſchirmerin der Griechen auf ihrem verlaſſenen Hei¬ ligthume opfern. Da ſchoß eine giftige Natter, dergleichen die Heiligthümer der Götter zu bewachen pflegten, auf den Herantretenden zu, und verwundete den Helden mit ihrem Biß am Fuße. Erkrankt wurde er wie¬ der zu Schiffe gebracht und die Flotte ſegelte weiter. Die giftige und ſtets weiter freſſende Wunde aber pei¬ nigte den Sohn des Pöas mit unerträglicher Qual, und ſeine Schiffsgenoſſen konnten den übeln Geruch des eitern¬ den Geſchwüres und ſein beſtändiges Jammergeſchrei nicht länger aushalten. Keine Spende, kein Opfer vermochten ſie ruhig darzubringen; in Alles miſchte ſich ſein unheiliger Angſtruf. Endlich traten die Söhne des Atreus mit dem verſchlagenen Odyſſeus zuſammen, denn die Unzufrieden¬ heit der Begleiter des kranken Helden fing an, ſich durch das ganze Heer zu verbreiten, welches fürchtete,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0068"n="46"/></div><divn="2"><head><hirendition="#b">Abfahrt der Griechen. Ausſetzung des Philoktetes.</hi><lb/></head><p>Noch an demſelben Tage ging die Flotte der Griechen<lb/>
unter Segel, und der günſtigſte Fahrwind führte ſie ſchnell<lb/>
auf die hohe See. Nach einer kurzen Fahrt landeten ſie<lb/>
auf der kleinen Inſel Chryſe, um friſches Waſſer einzu¬<lb/>
nehmen. Hier entdeckte Philoktetes, der Sohn des Kö¬<lb/>
niges Pöas aus Meliböa in Theſſalien, der erprobte<lb/>
Held und Waffengefährte des Herkules, der Erbe ſeiner<lb/>
unüberwindlichen Pfeile, einen verfallenen Altar, welchen<lb/>
einſt der Argonaute Jaſon auf ſeiner Fahrt der Göttin<lb/>
Pallas Athene, der die Inſel heilig war, geweihet hatte.<lb/>
Der fromme Held freute ſich ſeines Fundes und wollte<lb/>
der Beſchirmerin der Griechen auf ihrem verlaſſenen Hei¬<lb/>
ligthume opfern. Da ſchoß eine giftige Natter, dergleichen<lb/>
die Heiligthümer der Götter zu bewachen pflegten, auf<lb/>
den Herantretenden zu, und verwundete den Helden<lb/>
mit ihrem Biß am Fuße. Erkrankt wurde er wie¬<lb/>
der zu Schiffe gebracht und die Flotte ſegelte weiter.<lb/>
Die giftige und ſtets weiter freſſende Wunde aber pei¬<lb/>
nigte den Sohn des Pöas mit unerträglicher Qual, und<lb/>ſeine Schiffsgenoſſen konnten den übeln Geruch des eitern¬<lb/>
den Geſchwüres und ſein beſtändiges Jammergeſchrei nicht<lb/>
länger aushalten. Keine Spende, kein Opfer vermochten<lb/>ſie ruhig darzubringen; in Alles miſchte ſich ſein unheiliger<lb/>
Angſtruf. Endlich traten die Söhne des Atreus mit dem<lb/>
verſchlagenen Odyſſeus zuſammen, denn die Unzufrieden¬<lb/>
heit der Begleiter des kranken Helden fing an, ſich<lb/>
durch das ganze Heer zu verbreiten, welches fürchtete,<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[46/0068]
Abfahrt der Griechen. Ausſetzung des Philoktetes.
Noch an demſelben Tage ging die Flotte der Griechen
unter Segel, und der günſtigſte Fahrwind führte ſie ſchnell
auf die hohe See. Nach einer kurzen Fahrt landeten ſie
auf der kleinen Inſel Chryſe, um friſches Waſſer einzu¬
nehmen. Hier entdeckte Philoktetes, der Sohn des Kö¬
niges Pöas aus Meliböa in Theſſalien, der erprobte
Held und Waffengefährte des Herkules, der Erbe ſeiner
unüberwindlichen Pfeile, einen verfallenen Altar, welchen
einſt der Argonaute Jaſon auf ſeiner Fahrt der Göttin
Pallas Athene, der die Inſel heilig war, geweihet hatte.
Der fromme Held freute ſich ſeines Fundes und wollte
der Beſchirmerin der Griechen auf ihrem verlaſſenen Hei¬
ligthume opfern. Da ſchoß eine giftige Natter, dergleichen
die Heiligthümer der Götter zu bewachen pflegten, auf
den Herantretenden zu, und verwundete den Helden
mit ihrem Biß am Fuße. Erkrankt wurde er wie¬
der zu Schiffe gebracht und die Flotte ſegelte weiter.
Die giftige und ſtets weiter freſſende Wunde aber pei¬
nigte den Sohn des Pöas mit unerträglicher Qual, und
ſeine Schiffsgenoſſen konnten den übeln Geruch des eitern¬
den Geſchwüres und ſein beſtändiges Jammergeſchrei nicht
länger aushalten. Keine Spende, kein Opfer vermochten
ſie ruhig darzubringen; in Alles miſchte ſich ſein unheiliger
Angſtruf. Endlich traten die Söhne des Atreus mit dem
verſchlagenen Odyſſeus zuſammen, denn die Unzufrieden¬
heit der Begleiter des kranken Helden fing an, ſich
durch das ganze Heer zu verbreiten, welches fürchtete,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/68>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.