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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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Vorrathskammer seines Vaters hinab, wo Gold und
Erz in Haufen lag, kostbare Gewande im Kasten ruhten,
Krüge voll duftigen Oeles und Fässer mit balsamischem
Weine gefüllt an die Mauer gelehnt umherstanden. Hier
fand er die wachsame Schaffnerin Euryklea, schloß hinter
sich die Pforte riegelfest, und sprach zu ihr: "Mütterchen!
Geschwind schöpf' und fülle mir zwölf Henkelkrüge mit
Wein und spünde sie wohl mit Deckeln, schütte mir auch
zwanzig Maaße feingemahlenen Mehls in Schläuche, und
rüste Alles zusammen auf einen Haufen. Denn vor Nacht
noch, wenn die Mutter schon im Schlafgemach ist, komme
ich, und hohle Alles ab. Erst nach zwölf Tagen, oder
wenn sie mich selbst vermißt, darfst du ihr sagen, daß
ich fort bin, den Vater zu suchen!" Weinend schwur
ihm dieses die gute Schaffnerin zu, und that wie er
befohlen.

Indessen hatte Minerva selbst Telemachs Gestalt
angenommen, Genossen für die Reise geworben und von
einem reichen Bürger, Noemon, ein Schiff zur Reise ge¬
borgt. Dann betäubte sie den Sinn der Freier, daß
ihnen die Becher aus den Händen fielen, und ein tiefer
Schlummer, wie Berauschten zu geschehen pflegt, sich
ihrer bemächtigte. Endlich nahm sie Mentors Gestalt
wieder an, gesellte sich zu Telemach, und ermunterte ihn,
die Fahrt nicht länger zu verschieben. Bald standen beide
am Meere, fanden dort die Genossen, ließen die Zehrung
zu Schiffe bringen und bestiegen das Fahrzeug. Als
die Woge schon um den Kiel schlug und der Wind die
Segel schwellte, brachten sie den Göttern ein Trankopfer
dar und fuhren bei günstiger Luft die ganze Nachtpfeil¬
schnell dahin.

Schwab, das klass. Alterthum. III. 6

Vorrathskammer ſeines Vaters hinab, wo Gold und
Erz in Haufen lag, koſtbare Gewande im Kaſten ruhten,
Krüge voll duftigen Oeles und Fäſſer mit balſamiſchem
Weine gefüllt an die Mauer gelehnt umherſtanden. Hier
fand er die wachſame Schaffnerin Eurykléa, ſchloß hinter
ſich die Pforte riegelfeſt, und ſprach zu ihr: „Mütterchen!
Geſchwind ſchöpf' und fülle mir zwölf Henkelkrüge mit
Wein und ſpünde ſie wohl mit Deckeln, ſchütte mir auch
zwanzig Maaße feingemahlenen Mehls in Schläuche, und
rüſte Alles zuſammen auf einen Haufen. Denn vor Nacht
noch, wenn die Mutter ſchon im Schlafgemach iſt, komme
ich, und hohle Alles ab. Erſt nach zwölf Tagen, oder
wenn ſie mich ſelbſt vermißt, darfſt du ihr ſagen, daß
ich fort bin, den Vater zu ſuchen!“ Weinend ſchwur
ihm dieſes die gute Schaffnerin zu, und that wie er
befohlen.

Indeſſen hatte Minerva ſelbſt Telemachs Geſtalt
angenommen, Genoſſen für die Reiſe geworben und von
einem reichen Bürger, Noëmon, ein Schiff zur Reiſe ge¬
borgt. Dann betäubte ſie den Sinn der Freier, daß
ihnen die Becher aus den Händen fielen, und ein tiefer
Schlummer, wie Berauſchten zu geſchehen pflegt, ſich
ihrer bemächtigte. Endlich nahm ſie Mentors Geſtalt
wieder an, geſellte ſich zu Telemach, und ermunterte ihn,
die Fahrt nicht länger zu verſchieben. Bald ſtanden beide
am Meere, fanden dort die Genoſſen, ließen die Zehrung
zu Schiffe bringen und beſtiegen das Fahrzeug. Als
die Woge ſchon um den Kiel ſchlug und der Wind die
Segel ſchwellte, brachten ſie den Göttern ein Trankopfer
dar und fuhren bei günſtiger Luft die ganze Nachtpfeil¬
ſchnell dahin.

Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 6
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[81/0103] Vorrathskammer ſeines Vaters hinab, wo Gold und Erz in Haufen lag, koſtbare Gewande im Kaſten ruhten, Krüge voll duftigen Oeles und Fäſſer mit balſamiſchem Weine gefüllt an die Mauer gelehnt umherſtanden. Hier fand er die wachſame Schaffnerin Eurykléa, ſchloß hinter ſich die Pforte riegelfeſt, und ſprach zu ihr: „Mütterchen! Geſchwind ſchöpf' und fülle mir zwölf Henkelkrüge mit Wein und ſpünde ſie wohl mit Deckeln, ſchütte mir auch zwanzig Maaße feingemahlenen Mehls in Schläuche, und rüſte Alles zuſammen auf einen Haufen. Denn vor Nacht noch, wenn die Mutter ſchon im Schlafgemach iſt, komme ich, und hohle Alles ab. Erſt nach zwölf Tagen, oder wenn ſie mich ſelbſt vermißt, darfſt du ihr ſagen, daß ich fort bin, den Vater zu ſuchen!“ Weinend ſchwur ihm dieſes die gute Schaffnerin zu, und that wie er befohlen. Indeſſen hatte Minerva ſelbſt Telemachs Geſtalt angenommen, Genoſſen für die Reiſe geworben und von einem reichen Bürger, Noëmon, ein Schiff zur Reiſe ge¬ borgt. Dann betäubte ſie den Sinn der Freier, daß ihnen die Becher aus den Händen fielen, und ein tiefer Schlummer, wie Berauſchten zu geſchehen pflegt, ſich ihrer bemächtigte. Endlich nahm ſie Mentors Geſtalt wieder an, geſellte ſich zu Telemach, und ermunterte ihn, die Fahrt nicht länger zu verſchieben. Bald ſtanden beide am Meere, fanden dort die Genoſſen, ließen die Zehrung zu Schiffe bringen und beſtiegen das Fahrzeug. Als die Woge ſchon um den Kiel ſchlug und der Wind die Segel ſchwellte, brachten ſie den Göttern ein Trankopfer dar und fuhren bei günſtiger Luft die ganze Nachtpfeil¬ ſchnell dahin. Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 6

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/103>, abgerufen am 24.11.2024.