So sprach Menelaus und, ohne es zu wollen, machte er dem Telemach das Herz so weichmüthig, daß ihm die Thränen von den Wimpern herabrollten, und er den Purpurmantel mit beiden Händen fest vor die Augen drücken mußte. Dem Könige Sparta's blieb dieß nicht verborgen und er erkannte in dem Jüngling alsbald den Sohn des Odysseus.
Indessen wandelte auch die Fürstin Helena aus ihrem duftenden Frauengemache hervor, einer Göttin an Schönheit gleich; sie umringten anmuthige Dienerinnen: die eine stellte ihr den Sessel hin; eine andere breitete den wollenen Teppich unter; die dritte brachte ihr einen silbernen Korb, das Gastgeschenk der Königin von Theben in Aegypten; er war mit gesponnenem Garne gefüllt, und die volle Spindel lag darüber. So setzte sich die Königin auf den Sessel, stellte die Füße auf den Sche¬ mel, und begann ihren Gemahl neugierig nach dem Geschlechte der neuangekommenen Männer zu fragen. "Sah ich doch auf der Welt noch keinen Menschen, der dem hochgesinnten Odysseus so ähnlich wäre, wie der Eine der Jünglinge hier!" So sprach sie leise zu ihrem Gemahl, und dieser antwortete ihr: "Auch mir, o Frau, kommt es so vor. Füße, Hände, Blicke der Augen, Haupt- und Scheitelhaare, Alles ist dasselbe an Beiden! Auch tropften dem Jüngling bittere Zähren von den Wimpern, als ich vorhin unserer Noth und des Odysseus gedachte!"
Pisistratus, Telemachs Begleiter, vernahm diese Reden und sagte laut: "Du redest recht, König Mene¬ laus, dieser ist des Odysseus Sohn, Telemachus; er aber ist zu bescheiden, dreist mit dir zu sprechen. Ihn
So ſprach Menelaus und, ohne es zu wollen, machte er dem Telemach das Herz ſo weichmüthig, daß ihm die Thränen von den Wimpern herabrollten, und er den Purpurmantel mit beiden Händen feſt vor die Augen drücken mußte. Dem Könige Sparta's blieb dieß nicht verborgen und er erkannte in dem Jüngling alsbald den Sohn des Odyſſeus.
Indeſſen wandelte auch die Fürſtin Helena aus ihrem duftenden Frauengemache hervor, einer Göttin an Schönheit gleich; ſie umringten anmuthige Dienerinnen: die eine ſtellte ihr den Seſſel hin; eine andere breitete den wollenen Teppich unter; die dritte brachte ihr einen ſilbernen Korb, das Gaſtgeſchenk der Königin von Theben in Aegypten; er war mit geſponnenem Garne gefüllt, und die volle Spindel lag darüber. So ſetzte ſich die Königin auf den Seſſel, ſtellte die Füße auf den Sche¬ mel, und begann ihren Gemahl neugierig nach dem Geſchlechte der neuangekommenen Männer zu fragen. „Sah ich doch auf der Welt noch keinen Menſchen, der dem hochgeſinnten Odyſſeus ſo ähnlich wäre, wie der Eine der Jünglinge hier!“ So ſprach ſie leiſe zu ihrem Gemahl, und dieſer antwortete ihr: „Auch mir, o Frau, kommt es ſo vor. Füße, Hände, Blicke der Augen, Haupt- und Scheitelhaare, Alles iſt daſſelbe an Beiden! Auch tropften dem Jüngling bittere Zähren von den Wimpern, als ich vorhin unſerer Noth und des Odyſſeus gedachte!“
Piſiſtratus, Telemachs Begleiter, vernahm dieſe Reden und ſagte laut: „Du redeſt recht, König Mene¬ laus, dieſer iſt des Odyſſeus Sohn, Telemachus; er aber iſt zu beſcheiden, dreiſt mit dir zu ſprechen. Ihn
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So ſprach Menelaus und, ohne es zu wollen, machte
er dem Telemach das Herz ſo weichmüthig, daß ihm
die Thränen von den Wimpern herabrollten, und er den
Purpurmantel mit beiden Händen feſt vor die Augen
drücken mußte. Dem Könige Sparta's blieb dieß nicht
verborgen und er erkannte in dem Jüngling alsbald den
Sohn des Odyſſeus.
Indeſſen wandelte auch die Fürſtin Helena aus
ihrem duftenden Frauengemache hervor, einer Göttin an
Schönheit gleich; ſie umringten anmuthige Dienerinnen:
die eine ſtellte ihr den Seſſel hin; eine andere breitete
den wollenen Teppich unter; die dritte brachte ihr einen
ſilbernen Korb, das Gaſtgeſchenk der Königin von Theben
in Aegypten; er war mit geſponnenem Garne gefüllt,
und die volle Spindel lag darüber. So ſetzte ſich die
Königin auf den Seſſel, ſtellte die Füße auf den Sche¬
mel, und begann ihren Gemahl neugierig nach dem
Geſchlechte der neuangekommenen Männer zu fragen.
„Sah ich doch auf der Welt noch keinen Menſchen, der
dem hochgeſinnten Odyſſeus ſo ähnlich wäre, wie der
Eine der Jünglinge hier!“ So ſprach ſie leiſe zu ihrem
Gemahl, und dieſer antwortete ihr: „Auch mir, o Frau,
kommt es ſo vor. Füße, Hände, Blicke der Augen,
Haupt- und Scheitelhaare, Alles iſt daſſelbe an Beiden!
Auch tropften dem Jüngling bittere Zähren von den
Wimpern, als ich vorhin unſerer Noth und des Odyſſeus
gedachte!“
Piſiſtratus, Telemachs Begleiter, vernahm dieſe
Reden und ſagte laut: „Du redeſt recht, König Mene¬
laus, dieſer iſt des Odyſſeus Sohn, Telemachus; er
aber iſt zu beſcheiden, dreiſt mit dir zu ſprechen. Ihn
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/111>, abgerufen am 25.11.2024.
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