Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

Staunen!" Telemach hatte nicht so leise gesprochen, daß
Menelaus nicht die letzten Worte vernommen hätte.
"Lieben Söhne," sagte er daher lächelnd, "mit Jupiter
wetteifre kein Sterblicher! Sein Palast ist unvergäng¬
lich, und all sein Besitz! Aber das ist wahr; unter den
Menschen wird sich nicht leicht einer mit mir im Reich¬
thume messen können, habe ich ihn doch auch nach vielen
Leiden und Irrfahrten eingethan und brauchte acht Jahre,
bis ich wohlbehalten in der Heimath wieder ankam. Auf
Cypern, in Phönicien, in Aegypten, Aethiopien, Libyen
bin ich gewesen. Das ist ein Land, ihr Freunde! Dort
kommen die Lämmer gleich mit Hörnern auf die Welt;
die Schafe werfen dreimal des Jahres, und nie fehlt
es dem Herrn und dem Hirten an Fleisch, Milch und
Käse! Während ich mir in diesen Landen viel kostbare
Habe sammelte, hat mir zu Mycene ein Anderer den
Bruder erschlagen, ein Meuchelmörder, durch die List
seines treulosen Weibes so daß ich bei all meinem
Besitze doch nicht recht fröhlich herrschen kann! Doch,
das habt ihr wohl Alles schon von euren Vätern ver¬
nommen, wer sie auch seyn mögen! Und gerne wär' ich
mit dem Drittel meines Gutes zufrieden, wenn nur die
Männer noch lebten, die vor Troja gefallen sind; Und
doch -- keinen von ihnen betraure ich so innig, als
Einen, der mir Schlaf und Speise verleidet, wenn ich
sein gedenke! Denn so viel erduldete doch kein anderer
Grieche, als Odysseus! Und nun weiß ich nicht einmal,
ob er lebt oder todt ist! Vielleicht trauern um ihn längst
sein alter Vater Laertes, und seine züchtige Gemahlin
Penelope, und sein junger Sohn Telemachus, der noch
ein Säugling war, als er ihn verließ."

Staunen!“ Telemach hatte nicht ſo leiſe geſprochen, daß
Menelaus nicht die letzten Worte vernommen hätte.
„Lieben Söhne,“ ſagte er daher lächelnd, „mit Jupiter
wetteifre kein Sterblicher! Sein Palaſt iſt unvergäng¬
lich, und all ſein Beſitz! Aber das iſt wahr; unter den
Menſchen wird ſich nicht leicht einer mit mir im Reich¬
thume meſſen können, habe ich ihn doch auch nach vielen
Leiden und Irrfahrten eingethan und brauchte acht Jahre,
bis ich wohlbehalten in der Heimath wieder ankam. Auf
Cypern, in Phönicien, in Aegypten, Aethiopien, Libyen
bin ich geweſen. Das iſt ein Land, ihr Freunde! Dort
kommen die Lämmer gleich mit Hörnern auf die Welt;
die Schafe werfen dreimal des Jahres, und nie fehlt
es dem Herrn und dem Hirten an Fleiſch, Milch und
Käſe! Während ich mir in dieſen Landen viel koſtbare
Habe ſammelte, hat mir zu Mycene ein Anderer den
Bruder erſchlagen, ein Meuchelmörder, durch die Liſt
ſeines treuloſen Weibes ſo daß ich bei all meinem
Beſitze doch nicht recht fröhlich herrſchen kann! Doch,
das habt ihr wohl Alles ſchon von euren Vätern ver¬
nommen, wer ſie auch ſeyn mögen! Und gerne wär' ich
mit dem Drittel meines Gutes zufrieden, wenn nur die
Männer noch lebten, die vor Troja gefallen ſind; Und
doch — keinen von ihnen betraure ich ſo innig, als
Einen, der mir Schlaf und Speiſe verleidet, wenn ich
ſein gedenke! Denn ſo viel erduldete doch kein anderer
Grieche, als Odyſſeus! Und nun weiß ich nicht einmal,
ob er lebt oder todt iſt! Vielleicht trauern um ihn längſt
ſein alter Vater Laertes, und ſeine züchtige Gemahlin
Penelope, und ſein junger Sohn Telemachus, der noch
ein Säugling war, als er ihn verließ.“

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0110" n="88"/>
Staunen!&#x201C; Telemach hatte nicht &#x017F;o lei&#x017F;e ge&#x017F;prochen, daß<lb/>
Menelaus nicht die letzten Worte vernommen hätte.<lb/>
&#x201E;Lieben Söhne,&#x201C; &#x017F;agte er daher lächelnd, &#x201E;mit Jupiter<lb/>
wetteifre kein Sterblicher! Sein Pala&#x017F;t i&#x017F;t unvergäng¬<lb/>
lich, und all &#x017F;ein Be&#x017F;itz! Aber das i&#x017F;t wahr; unter den<lb/>
Men&#x017F;chen wird &#x017F;ich nicht leicht einer mit mir im Reich¬<lb/>
thume me&#x017F;&#x017F;en können, habe ich ihn doch auch nach vielen<lb/>
Leiden und Irrfahrten eingethan und brauchte acht Jahre,<lb/>
bis ich wohlbehalten in der Heimath wieder ankam. Auf<lb/>
Cypern, in Phönicien, in Aegypten, Aethiopien, Libyen<lb/>
bin ich gewe&#x017F;en. Das i&#x017F;t ein Land, ihr Freunde! Dort<lb/>
kommen die Lämmer gleich mit Hörnern auf die Welt;<lb/>
die Schafe werfen dreimal des Jahres, und nie fehlt<lb/>
es dem Herrn und dem Hirten an Flei&#x017F;ch, Milch und<lb/>&#x017F;e! Während ich mir in die&#x017F;en Landen viel ko&#x017F;tbare<lb/>
Habe &#x017F;ammelte, hat mir zu Mycene ein Anderer den<lb/>
Bruder er&#x017F;chlagen, ein Meuchelmörder, durch die Li&#x017F;t<lb/>
&#x017F;eines treulo&#x017F;en Weibes &#x017F;o daß ich bei all meinem<lb/>
Be&#x017F;itze doch nicht recht fröhlich herr&#x017F;chen kann! Doch,<lb/>
das habt ihr wohl Alles &#x017F;chon von euren Vätern ver¬<lb/>
nommen, wer &#x017F;ie auch &#x017F;eyn mögen! Und gerne wär' ich<lb/>
mit dem Drittel meines Gutes zufrieden, wenn nur die<lb/>
Männer noch lebten, die vor Troja gefallen &#x017F;ind; Und<lb/>
doch &#x2014; keinen von ihnen betraure ich &#x017F;o innig, als<lb/>
Einen, der mir Schlaf und Spei&#x017F;e verleidet, wenn ich<lb/>
&#x017F;ein gedenke! Denn &#x017F;o viel erduldete doch kein anderer<lb/>
Grieche, als Ody&#x017F;&#x017F;eus! Und nun weiß ich nicht einmal,<lb/>
ob er lebt oder todt i&#x017F;t! Vielleicht trauern um ihn läng&#x017F;t<lb/>
&#x017F;ein alter Vater Laertes, und &#x017F;eine züchtige Gemahlin<lb/>
Penelope, und &#x017F;ein junger Sohn Telemachus, der noch<lb/>
ein Säugling war, als er ihn verließ.&#x201C;<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[88/0110] Staunen!“ Telemach hatte nicht ſo leiſe geſprochen, daß Menelaus nicht die letzten Worte vernommen hätte. „Lieben Söhne,“ ſagte er daher lächelnd, „mit Jupiter wetteifre kein Sterblicher! Sein Palaſt iſt unvergäng¬ lich, und all ſein Beſitz! Aber das iſt wahr; unter den Menſchen wird ſich nicht leicht einer mit mir im Reich¬ thume meſſen können, habe ich ihn doch auch nach vielen Leiden und Irrfahrten eingethan und brauchte acht Jahre, bis ich wohlbehalten in der Heimath wieder ankam. Auf Cypern, in Phönicien, in Aegypten, Aethiopien, Libyen bin ich geweſen. Das iſt ein Land, ihr Freunde! Dort kommen die Lämmer gleich mit Hörnern auf die Welt; die Schafe werfen dreimal des Jahres, und nie fehlt es dem Herrn und dem Hirten an Fleiſch, Milch und Käſe! Während ich mir in dieſen Landen viel koſtbare Habe ſammelte, hat mir zu Mycene ein Anderer den Bruder erſchlagen, ein Meuchelmörder, durch die Liſt ſeines treuloſen Weibes ſo daß ich bei all meinem Beſitze doch nicht recht fröhlich herrſchen kann! Doch, das habt ihr wohl Alles ſchon von euren Vätern ver¬ nommen, wer ſie auch ſeyn mögen! Und gerne wär' ich mit dem Drittel meines Gutes zufrieden, wenn nur die Männer noch lebten, die vor Troja gefallen ſind; Und doch — keinen von ihnen betraure ich ſo innig, als Einen, der mir Schlaf und Speiſe verleidet, wenn ich ſein gedenke! Denn ſo viel erduldete doch kein anderer Grieche, als Odyſſeus! Und nun weiß ich nicht einmal, ob er lebt oder todt iſt! Vielleicht trauern um ihn längſt ſein alter Vater Laertes, und ſeine züchtige Gemahlin Penelope, und ſein junger Sohn Telemachus, der noch ein Säugling war, als er ihn verließ.“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/110
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/110>, abgerufen am 25.11.2024.