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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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von der Erde vertilgt werden?" Und da Medon ihr
keinen Aufschluß zu geben vermochte, sank sie weinend
an der Schwelle ihres Gemaches nieder und rings um
schluchzten die Mägde mit ihr. "Warum ist er auch auf
die Fahrt gegangen, ohne es mir zu sagen! Gewiß
hätte ich ihn auf bessere Gedanken gebracht! Rufe mir
doch eine den alten Knecht des Hauses, Dolios, daß er
gehe und dem greisen Laertes dieß Alles melde! Vielleicht
daß der alte Mann einen Rath in seinem erfahrenen
Herzen findet!" Da that Euryklea, die alte Schaffnerin,
ihren Mund auf und sprach: "Und wenn du mich tödtest,
Herrin! ich will dirs nicht verhehlen. Ich selbst habe
um Alles gewußt; ich reichte ihm, was er begehrte;
aber ich mußte ihm einen Eidschwur thun, vor dem
zwölften Tage, oder ehe du ihn selbst vermißtest, nichts
von seiner Reise zu melden. Jetzt aber rathe ich dir,
dich gebadet und geschmückt auf den Söller mit deinen
Dienerinnen zu begeben, und Athene, Jupiters Tochter,
um ihren göttlichen Schutz für deinen Sohn anzuflehen."

Penelope gehorchte dem Rathe der Greisin, und
legte sich nach dem feierlichen Gebet ungegessen und
kummervoll schlafen. Da sandte ihr Athene im Traum
das Gebilde ihrer Schwester Iphthime, die Gemahlin
des Helden Eumelos, die ihr Trost einsprach und die
Wiederkehr ihres Sohnes verkündigte. "Sey getrost,"
sprach sie, "deinen Sohn begleitet eine Führerin, um die
ihn andere Männer beneiden dürften. Pallas Athene
selbst ist an seiner Seite; sie wird ihn gegen die Freier
schirmen; sie hat auch mich dir zugesandt." So redete
die Gestalt und verschwand an der verschlossenen Thüre.
Penelope erwachte aus dem Schlummer voll Freudigkeit

von der Erde vertilgt werden?“ Und da Medon ihr
keinen Aufſchluß zu geben vermochte, ſank ſie weinend
an der Schwelle ihres Gemaches nieder und rings um
ſchluchzten die Mägde mit ihr. „Warum iſt er auch auf
die Fahrt gegangen, ohne es mir zu ſagen! Gewiß
hätte ich ihn auf beſſere Gedanken gebracht! Rufe mir
doch eine den alten Knecht des Hauſes, Dolios, daß er
gehe und dem greiſen Laertes dieß Alles melde! Vielleicht
daß der alte Mann einen Rath in ſeinem erfahrenen
Herzen findet!“ Da that Euryklea, die alte Schaffnerin,
ihren Mund auf und ſprach: „Und wenn du mich tödteſt,
Herrin! ich will dirs nicht verhehlen. Ich ſelbſt habe
um Alles gewußt; ich reichte ihm, was er begehrte;
aber ich mußte ihm einen Eidſchwur thun, vor dem
zwölften Tage, oder ehe du ihn ſelbſt vermißteſt, nichts
von ſeiner Reiſe zu melden. Jetzt aber rathe ich dir,
dich gebadet und geſchmückt auf den Söller mit deinen
Dienerinnen zu begeben, und Athene, Jupiters Tochter,
um ihren göttlichen Schutz für deinen Sohn anzuflehen.“

Penelope gehorchte dem Rathe der Greiſin, und
legte ſich nach dem feierlichen Gebet ungegeſſen und
kummervoll ſchlafen. Da ſandte ihr Athene im Traum
das Gebilde ihrer Schweſter Iphthime, die Gemahlin
des Helden Eumelos, die ihr Troſt einſprach und die
Wiederkehr ihres Sohnes verkündigte. „Sey getroſt,“
ſprach ſie, „deinen Sohn begleitet eine Führerin, um die
ihn andere Männer beneiden dürften. Pallas Athene
ſelbſt iſt an ſeiner Seite; ſie wird ihn gegen die Freier
ſchirmen; ſie hat auch mich dir zugeſandt.“ So redete
die Geſtalt und verſchwand an der verſchloſſenen Thüre.
Penelope erwachte aus dem Schlummer voll Freudigkeit

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[94/0116] von der Erde vertilgt werden?“ Und da Medon ihr keinen Aufſchluß zu geben vermochte, ſank ſie weinend an der Schwelle ihres Gemaches nieder und rings um ſchluchzten die Mägde mit ihr. „Warum iſt er auch auf die Fahrt gegangen, ohne es mir zu ſagen! Gewiß hätte ich ihn auf beſſere Gedanken gebracht! Rufe mir doch eine den alten Knecht des Hauſes, Dolios, daß er gehe und dem greiſen Laertes dieß Alles melde! Vielleicht daß der alte Mann einen Rath in ſeinem erfahrenen Herzen findet!“ Da that Euryklea, die alte Schaffnerin, ihren Mund auf und ſprach: „Und wenn du mich tödteſt, Herrin! ich will dirs nicht verhehlen. Ich ſelbſt habe um Alles gewußt; ich reichte ihm, was er begehrte; aber ich mußte ihm einen Eidſchwur thun, vor dem zwölften Tage, oder ehe du ihn ſelbſt vermißteſt, nichts von ſeiner Reiſe zu melden. Jetzt aber rathe ich dir, dich gebadet und geſchmückt auf den Söller mit deinen Dienerinnen zu begeben, und Athene, Jupiters Tochter, um ihren göttlichen Schutz für deinen Sohn anzuflehen.“ Penelope gehorchte dem Rathe der Greiſin, und legte ſich nach dem feierlichen Gebet ungegeſſen und kummervoll ſchlafen. Da ſandte ihr Athene im Traum das Gebilde ihrer Schweſter Iphthime, die Gemahlin des Helden Eumelos, die ihr Troſt einſprach und die Wiederkehr ihres Sohnes verkündigte. „Sey getroſt,“ ſprach ſie, „deinen Sohn begleitet eine Führerin, um die ihn andere Männer beneiden dürften. Pallas Athene ſelbſt iſt an ſeiner Seite; ſie wird ihn gegen die Freier ſchirmen; ſie hat auch mich dir zugeſandt.“ So redete die Geſtalt und verſchwand an der verſchloſſenen Thüre. Penelope erwachte aus dem Schlummer voll Freudigkeit

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/116>, abgerufen am 26.11.2024.