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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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grünten schwellende Wiesen mit Veilchen, Eppich und
andern Kräutern und Blumen durchsäet.

Der Götterbote bewunderte die liebliche Lage der
Nymphenwohnung, dann wandelte er in die geräumige
Kluft. Kalypso erblickte den Nahenden und erkannte ihn
auch alsbald: denn so ferne sie auch von einander woh¬
nen mögen, so sind sich doch die ewigen Götter von
Gestalt nicht unbekannt. Den Odysseus fand jedoch Mer¬
kur nicht zu Hause. Er saß, wie er gewohnt war,
jammernd am Gestade, und schaute mit Thränen in den
Augen auf das öde Meer sehnsüchtig hinaus.

Als Kalypso die Botschaft des Gottes vernahm, den
sie voll Herzlichkeit empfangen hatte, stutzte sie und sprach
endlich: "O ihr grausamen, eifersüchtigen Götter! duldet
ihrs denn gar nicht, daß eine Unsterbliche sich einen
Sterblichen zum lieben Gemahl erkiese? Verarget ihr
mir den Umgang mit dem Manne, den ich vom Tode
gerettet habe, als er, an den geborstenen Kiel seines
Schiffes sich schmiegend, an meine Küste geschleudert
ward? Alle seine tapfern Freunde waren in den Ab¬
grund versunken; sein Schiff hatte der Blitz getroffen;
einsam schwamm er auf den Trümmern einher. Ich
empfing den armen Schiffbrüchigen freundlich, stärkte
ihn mit Nahrung, ja ich verhieß ihm zuletzt, ihm Un¬
sterblichkeit und ewige Jugend zu verleihen. Doch weil
gegen Jupiters Rath keine Ausflucht etwas vermag --
so mag er denn wieder hinaus fahren auf das unend¬
liche Meer. Nur muthet mir nicht zu, daß ich ihn selbst
fortschicke; fehlt es doch meinen Schiffen an Beman¬
nung und an Rudergeräthe! Doch soll es ihm an

grünten ſchwellende Wieſen mit Veilchen, Eppich und
andern Kräutern und Blumen durchſäet.

Der Götterbote bewunderte die liebliche Lage der
Nymphenwohnung, dann wandelte er in die geräumige
Kluft. Kalypſo erblickte den Nahenden und erkannte ihn
auch alsbald: denn ſo ferne ſie auch von einander woh¬
nen mögen, ſo ſind ſich doch die ewigen Götter von
Geſtalt nicht unbekannt. Den Odyſſeus fand jedoch Mer¬
kur nicht zu Hauſe. Er ſaß, wie er gewohnt war,
jammernd am Geſtade, und ſchaute mit Thränen in den
Augen auf das öde Meer ſehnſüchtig hinaus.

Als Kalypſo die Botſchaft des Gottes vernahm, den
ſie voll Herzlichkeit empfangen hatte, ſtutzte ſie und ſprach
endlich: „O ihr grauſamen, eiferſüchtigen Götter! duldet
ihrs denn gar nicht, daß eine Unſterbliche ſich einen
Sterblichen zum lieben Gemahl erkieſe? Verarget ihr
mir den Umgang mit dem Manne, den ich vom Tode
gerettet habe, als er, an den geborſtenen Kiel ſeines
Schiffes ſich ſchmiegend, an meine Küſte geſchleudert
ward? Alle ſeine tapfern Freunde waren in den Ab¬
grund verſunken; ſein Schiff hatte der Blitz getroffen;
einſam ſchwamm er auf den Trümmern einher. Ich
empfing den armen Schiffbrüchigen freundlich, ſtärkte
ihn mit Nahrung, ja ich verhieß ihm zuletzt, ihm Un¬
ſterblichkeit und ewige Jugend zu verleihen. Doch weil
gegen Jupiters Rath keine Ausflucht etwas vermag —
ſo mag er denn wieder hinaus fahren auf das unend¬
liche Meer. Nur muthet mir nicht zu, daß ich ihn ſelbſt
fortſchicke; fehlt es doch meinen Schiffen an Beman¬
nung und an Rudergeräthe! Doch ſoll es ihm an

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[96/0118] grünten ſchwellende Wieſen mit Veilchen, Eppich und andern Kräutern und Blumen durchſäet. Der Götterbote bewunderte die liebliche Lage der Nymphenwohnung, dann wandelte er in die geräumige Kluft. Kalypſo erblickte den Nahenden und erkannte ihn auch alsbald: denn ſo ferne ſie auch von einander woh¬ nen mögen, ſo ſind ſich doch die ewigen Götter von Geſtalt nicht unbekannt. Den Odyſſeus fand jedoch Mer¬ kur nicht zu Hauſe. Er ſaß, wie er gewohnt war, jammernd am Geſtade, und ſchaute mit Thränen in den Augen auf das öde Meer ſehnſüchtig hinaus. Als Kalypſo die Botſchaft des Gottes vernahm, den ſie voll Herzlichkeit empfangen hatte, ſtutzte ſie und ſprach endlich: „O ihr grauſamen, eiferſüchtigen Götter! duldet ihrs denn gar nicht, daß eine Unſterbliche ſich einen Sterblichen zum lieben Gemahl erkieſe? Verarget ihr mir den Umgang mit dem Manne, den ich vom Tode gerettet habe, als er, an den geborſtenen Kiel ſeines Schiffes ſich ſchmiegend, an meine Küſte geſchleudert ward? Alle ſeine tapfern Freunde waren in den Ab¬ grund verſunken; ſein Schiff hatte der Blitz getroffen; einſam ſchwamm er auf den Trümmern einher. Ich empfing den armen Schiffbrüchigen freundlich, ſtärkte ihn mit Nahrung, ja ich verhieß ihm zuletzt, ihm Un¬ ſterblichkeit und ewige Jugend zu verleihen. Doch weil gegen Jupiters Rath keine Ausflucht etwas vermag — ſo mag er denn wieder hinaus fahren auf das unend¬ liche Meer. Nur muthet mir nicht zu, daß ich ihn ſelbſt fortſchicke; fehlt es doch meinen Schiffen an Beman¬ nung und an Rudergeräthe! Doch ſoll es ihm an

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/118>, abgerufen am 05.05.2024.