Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

schlamm noch ganz entstellt: die Mädchen meinten ein
Seeungeheuer zu sehen und flüchteten sich, die einen da,
die andern dorthin, auf die hohen waldigen Anhöhen des
Gestades. Nur die Tochter des Alcinous blieb stehen;
Athene hatte ihr Muth ins Herz eingeflößt, und sie stand
gegen den Fremdling gekehrt. Odysseus besann sich, ob
er die Knie der Jungfrau umfassen, oder aus ehrerbie¬
tiger Ferne sie anflehen sollte, ihm ein Kleid zu schenken
und den Weg nach Menschenwohnungen zu zeigen. Er
hielt das Letztere für ziemlicher und rief ihr daher von
Weitem zu: "Seyest du eine Göttin oder eine Jung¬
frau, schutzflehend nahe ich mich dir! Bist du eine
Göttin, so achte ich dich Dianen gleich an Gestalt und
Schönheit; bist du eine Sterbliche, so preise ich deine
Eltern und deine Brüder selig! Das Herz muß ihnen
im Leibe beben über deine Schönheit, wenn sie sehen,
wie solch ein herrlich Geschöpf zum Reigentanz einher¬
schreitet. Und wie hochbeglückt ist der, der dich als
Braut nach Hause führt! Mich aber sieh du gnädig
an, denn ich bin in unaussprechlichen Jammer gestürzt.
Gestern sind es zwanzig Tage, daß ich von der Insel
Ogygia abgefahren bin; vom Sturm ergriffen wurde
ich auf dem Meer umhergeworfen, und endlich als Schiff¬
brüchiger an diese Küste geschleudert, die ich nicht kenne,
wo mich Niemand kennt! Erbarme dich mein; gieb mir
eine Bedeckung für meinen Leib, zeige mir die Stadt,
wo du wohnest. Mögen dir die Götter dafür geben,
was dein Herz begehrt, einen Gatten, ein Haus, und
Frieden und Eintracht dazu!"

Nausikaa erwiederte auf diese Anrede: "Fremdling,
du scheinst mir kein schlechter und kein thörichter Mann

ſchlamm noch ganz entſtellt: die Mädchen meinten ein
Seeungeheuer zu ſehen und flüchteten ſich, die einen da,
die andern dorthin, auf die hohen waldigen Anhöhen des
Geſtades. Nur die Tochter des Alcinous blieb ſtehen;
Athene hatte ihr Muth ins Herz eingeflößt, und ſie ſtand
gegen den Fremdling gekehrt. Odyſſeus beſann ſich, ob
er die Knie der Jungfrau umfaſſen, oder aus ehrerbie¬
tiger Ferne ſie anflehen ſollte, ihm ein Kleid zu ſchenken
und den Weg nach Menſchenwohnungen zu zeigen. Er
hielt das Letztere für ziemlicher und rief ihr daher von
Weitem zu: „Seyeſt du eine Göttin oder eine Jung¬
frau, ſchutzflehend nahe ich mich dir! Biſt du eine
Göttin, ſo achte ich dich Dianen gleich an Geſtalt und
Schönheit; biſt du eine Sterbliche, ſo preiſe ich deine
Eltern und deine Brüder ſelig! Das Herz muß ihnen
im Leibe beben über deine Schönheit, wenn ſie ſehen,
wie ſolch ein herrlich Geſchöpf zum Reigentanz einher¬
ſchreitet. Und wie hochbeglückt iſt der, der dich als
Braut nach Hauſe führt! Mich aber ſieh du gnädig
an, denn ich bin in unausſprechlichen Jammer geſtürzt.
Geſtern ſind es zwanzig Tage, daß ich von der Inſel
Ogygia abgefahren bin; vom Sturm ergriffen wurde
ich auf dem Meer umhergeworfen, und endlich als Schiff¬
brüchiger an dieſe Küſte geſchleudert, die ich nicht kenne,
wo mich Niemand kennt! Erbarme dich mein; gieb mir
eine Bedeckung für meinen Leib, zeige mir die Stadt,
wo du wohneſt. Mögen dir die Götter dafür geben,
was dein Herz begehrt, einen Gatten, ein Haus, und
Frieden und Eintracht dazu!“

Nauſikaa erwiederte auf dieſe Anrede: „Fremdling,
du ſcheinſt mir kein ſchlechter und kein thörichter Mann

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0126" n="104"/>
&#x017F;chlamm noch ganz ent&#x017F;tellt: die Mädchen meinten ein<lb/>
Seeungeheuer zu &#x017F;ehen und flüchteten &#x017F;ich, die einen da,<lb/>
die andern dorthin, auf die hohen waldigen Anhöhen des<lb/>
Ge&#x017F;tades. Nur die Tochter des Alcinous blieb &#x017F;tehen;<lb/>
Athene hatte ihr Muth ins Herz eingeflößt, und &#x017F;ie &#x017F;tand<lb/>
gegen den Fremdling gekehrt. Ody&#x017F;&#x017F;eus be&#x017F;ann &#x017F;ich, ob<lb/>
er die Knie der Jungfrau umfa&#x017F;&#x017F;en, oder aus ehrerbie¬<lb/>
tiger Ferne &#x017F;ie anflehen &#x017F;ollte, ihm ein Kleid zu &#x017F;chenken<lb/>
und den Weg nach Men&#x017F;chenwohnungen zu zeigen. Er<lb/>
hielt das Letztere für ziemlicher und rief ihr daher von<lb/>
Weitem zu: &#x201E;Seye&#x017F;t du eine Göttin oder eine Jung¬<lb/>
frau, &#x017F;chutzflehend nahe ich mich dir! Bi&#x017F;t du eine<lb/>
Göttin, &#x017F;o achte ich dich Dianen gleich an Ge&#x017F;talt und<lb/>
Schönheit; bi&#x017F;t du eine Sterbliche, &#x017F;o prei&#x017F;e ich deine<lb/>
Eltern und deine Brüder &#x017F;elig! Das Herz muß ihnen<lb/>
im Leibe beben über deine Schönheit, wenn &#x017F;ie &#x017F;ehen,<lb/>
wie &#x017F;olch ein herrlich Ge&#x017F;chöpf zum Reigentanz einher¬<lb/>
&#x017F;chreitet. Und wie hochbeglückt i&#x017F;t der, der dich als<lb/>
Braut nach Hau&#x017F;e führt! Mich aber &#x017F;ieh du gnädig<lb/>
an, denn ich bin in unaus&#x017F;prechlichen Jammer ge&#x017F;türzt.<lb/>
Ge&#x017F;tern &#x017F;ind es zwanzig Tage, daß ich von der In&#x017F;el<lb/>
Ogygia abgefahren bin; vom Sturm ergriffen wurde<lb/>
ich auf dem Meer umhergeworfen, und endlich als Schiff¬<lb/>
brüchiger an die&#x017F;e Kü&#x017F;te ge&#x017F;chleudert, die ich nicht kenne,<lb/>
wo mich Niemand kennt! Erbarme dich mein; gieb mir<lb/>
eine Bedeckung für meinen Leib, zeige mir die Stadt,<lb/>
wo du wohne&#x017F;t. Mögen dir die Götter dafür geben,<lb/>
was dein Herz begehrt, einen Gatten, ein Haus, und<lb/>
Frieden und Eintracht dazu!&#x201C;</p><lb/>
            <p>Nau&#x017F;ikaa erwiederte auf die&#x017F;e Anrede: &#x201E;Fremdling,<lb/>
du &#x017F;chein&#x017F;t mir kein &#x017F;chlechter und kein thörichter Mann<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[104/0126] ſchlamm noch ganz entſtellt: die Mädchen meinten ein Seeungeheuer zu ſehen und flüchteten ſich, die einen da, die andern dorthin, auf die hohen waldigen Anhöhen des Geſtades. Nur die Tochter des Alcinous blieb ſtehen; Athene hatte ihr Muth ins Herz eingeflößt, und ſie ſtand gegen den Fremdling gekehrt. Odyſſeus beſann ſich, ob er die Knie der Jungfrau umfaſſen, oder aus ehrerbie¬ tiger Ferne ſie anflehen ſollte, ihm ein Kleid zu ſchenken und den Weg nach Menſchenwohnungen zu zeigen. Er hielt das Letztere für ziemlicher und rief ihr daher von Weitem zu: „Seyeſt du eine Göttin oder eine Jung¬ frau, ſchutzflehend nahe ich mich dir! Biſt du eine Göttin, ſo achte ich dich Dianen gleich an Geſtalt und Schönheit; biſt du eine Sterbliche, ſo preiſe ich deine Eltern und deine Brüder ſelig! Das Herz muß ihnen im Leibe beben über deine Schönheit, wenn ſie ſehen, wie ſolch ein herrlich Geſchöpf zum Reigentanz einher¬ ſchreitet. Und wie hochbeglückt iſt der, der dich als Braut nach Hauſe führt! Mich aber ſieh du gnädig an, denn ich bin in unausſprechlichen Jammer geſtürzt. Geſtern ſind es zwanzig Tage, daß ich von der Inſel Ogygia abgefahren bin; vom Sturm ergriffen wurde ich auf dem Meer umhergeworfen, und endlich als Schiff¬ brüchiger an dieſe Küſte geſchleudert, die ich nicht kenne, wo mich Niemand kennt! Erbarme dich mein; gieb mir eine Bedeckung für meinen Leib, zeige mir die Stadt, wo du wohneſt. Mögen dir die Götter dafür geben, was dein Herz begehrt, einen Gatten, ein Haus, und Frieden und Eintracht dazu!“ Nauſikaa erwiederte auf dieſe Anrede: „Fremdling, du ſcheinſt mir kein ſchlechter und kein thörichter Mann

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/126
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/126>, abgerufen am 05.05.2024.