Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

er sich in Allem höchst willig, und schenkte uns einen
dickaufgeschwollenen Schlauch, aus der Haut eines neun¬
jährigen Stiers bereitet. In diesem waren sämmtliche
Winde eingeschlossen, die über die Erde dahin zu wehen
pflegen; denn Aeolus war vom Vater Jupiter zum Ver¬
walter der Winde bestellt, und hatte die Macht empfan¬
gen, welche Winde er wollte, los zu lassen, und ihnen
wieder Ruhe zu gebieten. Er selbst nun band uns den
Schlauch mit einem glänzenden Seile von Silberfaden
in meinem Schiffe fest und schnürte ihn so zusammen,
daß auch nicht die kleinste Luft herauskonnte. Doch hatte
er sich darum der Winde nicht ganz entäußert, vielmehr
von allen Gattungen noch genug zu Hause. Das zeigte
er sogleich. Denn als wir uns eingeschifft hatten, ließ
er unsern Schiffen den sanftesten Westwind nachwehen,
der uns schnell und leicht in die Heimath bringen sollte.
Aber es wurde uns nicht so gut, sondern unsere eigene
Thorheit brachte uns in großes Unglück.

Schon segelten wir neun Tage und Nächte lang
auf dem Meere vorwärts, und in der zehnten Nacht
waren wir so nahe an meiner Heimathinsel Ithaka, daß
wir die Wachtfeuer des Ufers erblicken konnten. Da
mußte mich müden Mann der Schlummer beschleichen,
denn ich hatte mich unaufhörlich damit beschäftigt, das
Segel meines Schiffes zu stellen, um desto schneller das
Vaterland zu erreichen, und dieses Geschäft mochte ich
keinem Andern anvertrauen. Während ich nun schlief,
spannen meine Schiffsgesellen ein Gespräch darüber an,
was wohl in dem Schlauch sein möchte, welchen mir
der König Aeolus zum Gastgeschenke gegeben hätte. Da
zeigte sich, daß sie alle in dem Wahn befangen waren,

er ſich in Allem höchſt willig, und ſchenkte uns einen
dickaufgeſchwollenen Schlauch, aus der Haut eines neun¬
jährigen Stiers bereitet. In dieſem waren ſämmtliche
Winde eingeſchloſſen, die über die Erde dahin zu wehen
pflegen; denn Aeolus war vom Vater Jupiter zum Ver¬
walter der Winde beſtellt, und hatte die Macht empfan¬
gen, welche Winde er wollte, los zu laſſen, und ihnen
wieder Ruhe zu gebieten. Er ſelbſt nun band uns den
Schlauch mit einem glänzenden Seile von Silberfaden
in meinem Schiffe feſt und ſchnürte ihn ſo zuſammen,
daß auch nicht die kleinſte Luft herauskonnte. Doch hatte
er ſich darum der Winde nicht ganz entäußert, vielmehr
von allen Gattungen noch genug zu Hauſe. Das zeigte
er ſogleich. Denn als wir uns eingeſchifft hatten, ließ
er unſern Schiffen den ſanfteſten Weſtwind nachwehen,
der uns ſchnell und leicht in die Heimath bringen ſollte.
Aber es wurde uns nicht ſo gut, ſondern unſere eigene
Thorheit brachte uns in großes Unglück.

Schon ſegelten wir neun Tage und Nächte lang
auf dem Meere vorwärts, und in der zehnten Nacht
waren wir ſo nahe an meiner Heimathinſel Ithaka, daß
wir die Wachtfeuer des Ufers erblicken konnten. Da
mußte mich müden Mann der Schlummer beſchleichen,
denn ich hatte mich unaufhörlich damit beſchäftigt, das
Segel meines Schiffes zu ſtellen, um deſto ſchneller das
Vaterland zu erreichen, und dieſes Geſchäft mochte ich
keinem Andern anvertrauen. Während ich nun ſchlief,
ſpannen meine Schiffsgeſellen ein Geſpräch darüber an,
was wohl in dem Schlauch ſein möchte, welchen mir
der König Aeolus zum Gaſtgeſchenke gegeben hätte. Da
zeigte ſich, daß ſie alle in dem Wahn befangen waren,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0160" n="138"/>
er &#x017F;ich in Allem höch&#x017F;t willig, und &#x017F;chenkte uns einen<lb/>
dickaufge&#x017F;chwollenen Schlauch, aus der Haut eines neun¬<lb/>
jährigen Stiers bereitet. In die&#x017F;em waren &#x017F;ämmtliche<lb/>
Winde einge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, die über die Erde dahin zu wehen<lb/>
pflegen; denn Aeolus war vom Vater Jupiter zum Ver¬<lb/>
walter der Winde be&#x017F;tellt, und hatte die Macht empfan¬<lb/>
gen, welche Winde er wollte, los zu la&#x017F;&#x017F;en, und ihnen<lb/>
wieder Ruhe zu gebieten. Er &#x017F;elb&#x017F;t nun band uns den<lb/>
Schlauch mit einem glänzenden Seile von Silberfaden<lb/>
in meinem Schiffe fe&#x017F;t und &#x017F;chnürte ihn &#x017F;o zu&#x017F;ammen,<lb/>
daß auch nicht die klein&#x017F;te Luft herauskonnte. Doch hatte<lb/>
er &#x017F;ich darum der Winde nicht ganz entäußert, vielmehr<lb/>
von allen Gattungen noch genug zu Hau&#x017F;e. Das zeigte<lb/>
er &#x017F;ogleich. Denn als wir uns einge&#x017F;chifft hatten, ließ<lb/>
er un&#x017F;ern Schiffen den &#x017F;anfte&#x017F;ten We&#x017F;twind nachwehen,<lb/>
der uns &#x017F;chnell und leicht in die Heimath bringen &#x017F;ollte.<lb/>
Aber es wurde uns nicht &#x017F;o gut, &#x017F;ondern un&#x017F;ere eigene<lb/>
Thorheit brachte uns in großes Unglück.</p><lb/>
              <p>Schon &#x017F;egelten wir neun Tage und Nächte lang<lb/>
auf dem Meere vorwärts, und in der zehnten Nacht<lb/>
waren wir &#x017F;o nahe an meiner Heimathin&#x017F;el Ithaka, daß<lb/>
wir die Wachtfeuer des Ufers erblicken konnten. Da<lb/>
mußte mich müden Mann der Schlummer be&#x017F;chleichen,<lb/>
denn ich hatte mich unaufhörlich damit be&#x017F;chäftigt, das<lb/>
Segel meines Schiffes zu &#x017F;tellen, um de&#x017F;to &#x017F;chneller das<lb/>
Vaterland zu erreichen, und die&#x017F;es Ge&#x017F;chäft mochte ich<lb/>
keinem Andern anvertrauen. Während ich nun &#x017F;chlief,<lb/>
&#x017F;pannen meine Schiffsge&#x017F;ellen ein Ge&#x017F;präch darüber an,<lb/>
was wohl in dem Schlauch &#x017F;ein möchte, welchen mir<lb/>
der König Aeolus zum Ga&#x017F;tge&#x017F;chenke gegeben hätte. Da<lb/>
zeigte &#x017F;ich, daß &#x017F;ie alle in dem Wahn befangen waren,<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[138/0160] er ſich in Allem höchſt willig, und ſchenkte uns einen dickaufgeſchwollenen Schlauch, aus der Haut eines neun¬ jährigen Stiers bereitet. In dieſem waren ſämmtliche Winde eingeſchloſſen, die über die Erde dahin zu wehen pflegen; denn Aeolus war vom Vater Jupiter zum Ver¬ walter der Winde beſtellt, und hatte die Macht empfan¬ gen, welche Winde er wollte, los zu laſſen, und ihnen wieder Ruhe zu gebieten. Er ſelbſt nun band uns den Schlauch mit einem glänzenden Seile von Silberfaden in meinem Schiffe feſt und ſchnürte ihn ſo zuſammen, daß auch nicht die kleinſte Luft herauskonnte. Doch hatte er ſich darum der Winde nicht ganz entäußert, vielmehr von allen Gattungen noch genug zu Hauſe. Das zeigte er ſogleich. Denn als wir uns eingeſchifft hatten, ließ er unſern Schiffen den ſanfteſten Weſtwind nachwehen, der uns ſchnell und leicht in die Heimath bringen ſollte. Aber es wurde uns nicht ſo gut, ſondern unſere eigene Thorheit brachte uns in großes Unglück. Schon ſegelten wir neun Tage und Nächte lang auf dem Meere vorwärts, und in der zehnten Nacht waren wir ſo nahe an meiner Heimathinſel Ithaka, daß wir die Wachtfeuer des Ufers erblicken konnten. Da mußte mich müden Mann der Schlummer beſchleichen, denn ich hatte mich unaufhörlich damit beſchäftigt, das Segel meines Schiffes zu ſtellen, um deſto ſchneller das Vaterland zu erreichen, und dieſes Geſchäft mochte ich keinem Andern anvertrauen. Während ich nun ſchlief, ſpannen meine Schiffsgeſellen ein Geſpräch darüber an, was wohl in dem Schlauch ſein möchte, welchen mir der König Aeolus zum Gaſtgeſchenke gegeben hätte. Da zeigte ſich, daß ſie alle in dem Wahn befangen waren,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/160
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/160>, abgerufen am 22.11.2024.