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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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ich führe Silbers und Goldes genug in dem Sacke bei
mir, und endlich fing einer der Lüsternsten also an:
"Der Odysseus ist doch auch überall hoch geachtet und
geehrt! Wie viel Beute hat er nicht nur von Troja
mit hinweggebracht. Und wir, die wir alle die näm¬
lichen Gefahren und Mühseligkeiten ausgestanden haben,
wir kehren sämmtlich mit leeren Händen in die Heimath
zurück! Jetzt hat ihm Aeolus auch vollends einen Sack
voll Silbers und Goldes gegeben! Wie wär's, wenn
wir hineinguckten und auch erführen, wie viel Schätze
da drinnen verborgen sind?" Dieser böse Rath leuchtete
den übrigen Gesellen sogleich ein. Der Schlauch wurde
aufgelöst, und kaum war das Band los, so brausten
alle Winde mit einander daraus hervor, und die Winds¬
braut riß alle unsre Schiffe wieder hinaus in die offene
See.

Ich selbst fuhr über dem Brausen aus dem Schlafe
empor. Als ich das Unglück sah, das angerückt war,
überlegte ich einen Augenblick bei mir, ob ich nicht lieber
über Bord springen und mich in dem Abgrund begraben
sollte. Doch faßte ich mich wieder, und beschloß zu
bleiben, und alles, was da kommen könnte, zu ertragen.
Die Wuth der Orkane warf uns an die Insel des Aeo¬
lus zurück. Hier ließ ich die Meinigen auf den Schif¬
fen und eilte mit einem einzigen Freund und dem Herolde
in die Burg des Fürsten, den ich mit seiner Gemahlin
und seinen Kindern gerade beim Mittagsmahle traf.
Sie staunten alle nicht wenig über unsre Zurückkunft,
als sie aber vollends die Ursache vernahmen, erhob sich
der Verwalter der Winde zornig von seinem Sitze und
rief mir entgegen: "Verruchter Mensch, offenbar verfolgt

ich führe Silbers und Goldes genug in dem Sacke bei
mir, und endlich fing einer der Lüſternſten alſo an:
„Der Odyſſeus iſt doch auch überall hoch geachtet und
geehrt! Wie viel Beute hat er nicht nur von Troja
mit hinweggebracht. Und wir, die wir alle die näm¬
lichen Gefahren und Mühſeligkeiten ausgeſtanden haben,
wir kehren ſämmtlich mit leeren Händen in die Heimath
zurück! Jetzt hat ihm Aeolus auch vollends einen Sack
voll Silbers und Goldes gegeben! Wie wär's, wenn
wir hineinguckten und auch erführen, wie viel Schätze
da drinnen verborgen ſind?“ Dieſer böſe Rath leuchtete
den übrigen Geſellen ſogleich ein. Der Schlauch wurde
aufgelöſt, und kaum war das Band los, ſo brausten
alle Winde mit einander daraus hervor, und die Winds¬
braut riß alle unſre Schiffe wieder hinaus in die offene
See.

Ich ſelbſt fuhr über dem Brauſen aus dem Schlafe
empor. Als ich das Unglück ſah, das angerückt war,
überlegte ich einen Augenblick bei mir, ob ich nicht lieber
über Bord ſpringen und mich in dem Abgrund begraben
ſollte. Doch faßte ich mich wieder, und beſchloß zu
bleiben, und alles, was da kommen könnte, zu ertragen.
Die Wuth der Orkane warf uns an die Inſel des Aeo¬
lus zurück. Hier ließ ich die Meinigen auf den Schif¬
fen und eilte mit einem einzigen Freund und dem Herolde
in die Burg des Fürſten, den ich mit ſeiner Gemahlin
und ſeinen Kindern gerade beim Mittagsmahle traf.
Sie ſtaunten alle nicht wenig über unſre Zurückkunft,
als ſie aber vollends die Urſache vernahmen, erhob ſich
der Verwalter der Winde zornig von ſeinem Sitze und
rief mir entgegen: „Verruchter Menſch, offenbar verfolgt

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[139/0161] ich führe Silbers und Goldes genug in dem Sacke bei mir, und endlich fing einer der Lüſternſten alſo an: „Der Odyſſeus iſt doch auch überall hoch geachtet und geehrt! Wie viel Beute hat er nicht nur von Troja mit hinweggebracht. Und wir, die wir alle die näm¬ lichen Gefahren und Mühſeligkeiten ausgeſtanden haben, wir kehren ſämmtlich mit leeren Händen in die Heimath zurück! Jetzt hat ihm Aeolus auch vollends einen Sack voll Silbers und Goldes gegeben! Wie wär's, wenn wir hineinguckten und auch erführen, wie viel Schätze da drinnen verborgen ſind?“ Dieſer böſe Rath leuchtete den übrigen Geſellen ſogleich ein. Der Schlauch wurde aufgelöſt, und kaum war das Band los, ſo brausten alle Winde mit einander daraus hervor, und die Winds¬ braut riß alle unſre Schiffe wieder hinaus in die offene See. Ich ſelbſt fuhr über dem Brauſen aus dem Schlafe empor. Als ich das Unglück ſah, das angerückt war, überlegte ich einen Augenblick bei mir, ob ich nicht lieber über Bord ſpringen und mich in dem Abgrund begraben ſollte. Doch faßte ich mich wieder, und beſchloß zu bleiben, und alles, was da kommen könnte, zu ertragen. Die Wuth der Orkane warf uns an die Inſel des Aeo¬ lus zurück. Hier ließ ich die Meinigen auf den Schif¬ fen und eilte mit einem einzigen Freund und dem Herolde in die Burg des Fürſten, den ich mit ſeiner Gemahlin und ſeinen Kindern gerade beim Mittagsmahle traf. Sie ſtaunten alle nicht wenig über unſre Zurückkunft, als ſie aber vollends die Urſache vernahmen, erhob ſich der Verwalter der Winde zornig von ſeinem Sitze und rief mir entgegen: „Verruchter Menſch, offenbar verfolgt

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/161>, abgerufen am 29.04.2024.