das Schiff so vorwärts zu bringen. Ich aber gedachte an das Wort, das Circe, die mir dieses Alles voraus¬ sagte, gesprochen hatte. "Wenn du an die Insel der Si¬ renen kommst und ihr Gesang euch droht, so verkleide die Ohren deiner Freunde mit Wachs, daß sie nichts hören; begehrst du aber selbst ihr Lied zu vernehmen, so befiehl, daß man dich, an Händen und Füßen gefesselt, an den Mast binde, und je sehnlicher du deine Freunde bittest, dich loszubinden, desto fester sollen sie die Seile schnüren!"
Daran dachte ich jetzt, zerschnitt eine große Wachs¬ scheibe und knetete sie mit meinen nervichten Fingern; das weiche Wachs strich ich sodann meinen Reisegenossen in die Ohren. Sie aber banden mich auf mein Geheiß aufrecht unten an den Mast; dann setzten sie sich wie¬ der an die Ruder und trieben das Fahrzeug getrost vor¬ wärts. Als die Sirenen dieses heranschwimmen sahen, standen sie in der Gestalt reizender Mägdlein am Ufer und stimmten mit wundersüßer Kehle ihren hellen Gesang an, der also lautete:
Komm, preisvoller Odysseus, erhabener Ruhm der Achajer, Lenke das Schiff ans Land, um unsere Stimme zu hören. Denn noch ruderte Keiner vorbei im dunklen Schiffe, Eh' er aus unserem Munde die Honigstimme gehöret: Jener sodann kehrt fröhlich zurück, und Mehreres wissend. Denn wir wissen dir Alles, wie viel in den Ebenen Troja's Argos Söhn' und die Troer vom Rath der Götter geduldet, Alles was irgend geschah auf der vielernährenden Erde.
So sangen sie. Mir aber schwoll das Herz im Busen vor Begierde sie zu hören; ich winkte meinen Freunden mit dem Kopfe, mich loszubinden. Aber sie mit ihren tauben Ohren stürzten sich nur um so rascher
Schwab, das klass. Alterthum III. 11
das Schiff ſo vorwärts zu bringen. Ich aber gedachte an das Wort, das Circe, die mir dieſes Alles voraus¬ ſagte, geſprochen hatte. „Wenn du an die Inſel der Si¬ renen kommſt und ihr Geſang euch droht, ſo verkleide die Ohren deiner Freunde mit Wachs, daß ſie nichts hören; begehrſt du aber ſelbſt ihr Lied zu vernehmen, ſo befiehl, daß man dich, an Händen und Füßen gefeſſelt, an den Maſt binde, und je ſehnlicher du deine Freunde bitteſt, dich loszubinden, deſto feſter ſollen ſie die Seile ſchnüren!“
Daran dachte ich jetzt, zerſchnitt eine große Wachs¬ ſcheibe und knetete ſie mit meinen nervichten Fingern; das weiche Wachs ſtrich ich ſodann meinen Reiſegenoſſen in die Ohren. Sie aber banden mich auf mein Geheiß aufrecht unten an den Maſt; dann ſetzten ſie ſich wie¬ der an die Ruder und trieben das Fahrzeug getroſt vor¬ wärts. Als die Sirenen dieſes heranſchwimmen ſahen, ſtanden ſie in der Geſtalt reizender Mägdlein am Ufer und ſtimmten mit wunderſüßer Kehle ihren hellen Geſang an, der alſo lautete:
Komm, preisvoller Odyſſeus, erhabener Ruhm der Achajer, Lenke das Schiff ans Land, um unſere Stimme zu hören. Denn noch ruderte Keiner vorbei im dunklen Schiffe, Eh' er aus unſerem Munde die Honigſtimme gehöret: Jener ſodann kehrt fröhlich zurück, und Mehreres wiſſend. Denn wir wiſſen dir Alles, wie viel in den Ebenen Troja's Argos Söhn' und die Troer vom Rath der Götter geduldet, Alles was irgend geſchah auf der vielernährenden Erde.
So ſangen ſie. Mir aber ſchwoll das Herz im Buſen vor Begierde ſie zu hören; ich winkte meinen Freunden mit dem Kopfe, mich loszubinden. Aber ſie mit ihren tauben Ohren ſtürzten ſich nur um ſo raſcher
Schwab, das klaſſ. Alterthum III. 11
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0183"n="161"/>
das Schiff ſo vorwärts zu bringen. Ich aber gedachte<lb/>
an das Wort, das Circe, die mir dieſes Alles voraus¬<lb/>ſagte, geſprochen hatte. „Wenn du an die Inſel der Si¬<lb/>
renen kommſt und ihr Geſang euch droht, ſo verkleide<lb/>
die Ohren deiner Freunde mit Wachs, daß ſie nichts<lb/>
hören; begehrſt du aber ſelbſt ihr Lied zu vernehmen, ſo<lb/>
befiehl, daß man dich, an Händen und Füßen gefeſſelt,<lb/>
an den Maſt binde, und je ſehnlicher du deine Freunde<lb/>
bitteſt, dich loszubinden, deſto feſter ſollen ſie die Seile<lb/>ſchnüren!“</p><lb/><p>Daran dachte ich jetzt, zerſchnitt eine große Wachs¬<lb/>ſcheibe und knetete ſie mit meinen nervichten Fingern;<lb/>
das weiche Wachs ſtrich ich ſodann meinen Reiſegenoſſen<lb/>
in die Ohren. Sie aber banden mich auf mein Geheiß<lb/>
aufrecht unten an den Maſt; dann ſetzten ſie ſich wie¬<lb/>
der an die Ruder und trieben das Fahrzeug getroſt vor¬<lb/>
wärts. Als die Sirenen dieſes heranſchwimmen ſahen,<lb/>ſtanden ſie in der Geſtalt reizender Mägdlein am Ufer<lb/>
und ſtimmten mit wunderſüßer Kehle ihren hellen Geſang<lb/>
an, der alſo lautete:</p><lb/><p>Komm, preisvoller Odyſſeus, erhabener Ruhm der Achajer,<lb/>
Lenke das Schiff ans Land, um unſere Stimme zu hören.<lb/>
Denn noch ruderte Keiner vorbei im dunklen Schiffe,<lb/>
Eh' er aus unſerem Munde die Honigſtimme gehöret:<lb/>
Jener ſodann kehrt fröhlich zurück, und Mehreres wiſſend.<lb/>
Denn wir wiſſen dir Alles, wie viel in den Ebenen Troja's<lb/>
Argos Söhn' und die Troer vom Rath der Götter geduldet,<lb/>
Alles was irgend geſchah auf der vielernährenden Erde.</p><lb/><p>So ſangen ſie. Mir aber ſchwoll das Herz im<lb/>
Buſen vor Begierde ſie zu hören; ich winkte meinen<lb/>
Freunden mit dem Kopfe, mich loszubinden. Aber ſie<lb/>
mit ihren tauben Ohren ſtürzten ſich nur um ſo raſcher<lb/><fwtype="sig"place="bottom"><hirendition="#g">Schwab</hi>, das klaſſ. Alterthum <hirendition="#aq">III</hi>. 11<lb/></fw></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[161/0183]
das Schiff ſo vorwärts zu bringen. Ich aber gedachte
an das Wort, das Circe, die mir dieſes Alles voraus¬
ſagte, geſprochen hatte. „Wenn du an die Inſel der Si¬
renen kommſt und ihr Geſang euch droht, ſo verkleide
die Ohren deiner Freunde mit Wachs, daß ſie nichts
hören; begehrſt du aber ſelbſt ihr Lied zu vernehmen, ſo
befiehl, daß man dich, an Händen und Füßen gefeſſelt,
an den Maſt binde, und je ſehnlicher du deine Freunde
bitteſt, dich loszubinden, deſto feſter ſollen ſie die Seile
ſchnüren!“
Daran dachte ich jetzt, zerſchnitt eine große Wachs¬
ſcheibe und knetete ſie mit meinen nervichten Fingern;
das weiche Wachs ſtrich ich ſodann meinen Reiſegenoſſen
in die Ohren. Sie aber banden mich auf mein Geheiß
aufrecht unten an den Maſt; dann ſetzten ſie ſich wie¬
der an die Ruder und trieben das Fahrzeug getroſt vor¬
wärts. Als die Sirenen dieſes heranſchwimmen ſahen,
ſtanden ſie in der Geſtalt reizender Mägdlein am Ufer
und ſtimmten mit wunderſüßer Kehle ihren hellen Geſang
an, der alſo lautete:
Komm, preisvoller Odyſſeus, erhabener Ruhm der Achajer,
Lenke das Schiff ans Land, um unſere Stimme zu hören.
Denn noch ruderte Keiner vorbei im dunklen Schiffe,
Eh' er aus unſerem Munde die Honigſtimme gehöret:
Jener ſodann kehrt fröhlich zurück, und Mehreres wiſſend.
Denn wir wiſſen dir Alles, wie viel in den Ebenen Troja's
Argos Söhn' und die Troer vom Rath der Götter geduldet,
Alles was irgend geſchah auf der vielernährenden Erde.
So ſangen ſie. Mir aber ſchwoll das Herz im
Buſen vor Begierde ſie zu hören; ich winkte meinen
Freunden mit dem Kopfe, mich loszubinden. Aber ſie
mit ihren tauben Ohren ſtürzten ſich nur um ſo raſcher
Schwab, das klaſſ. Alterthum III. 11
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/183>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.