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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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nimmermehr bekomme ich einen so gütigen Herrn, er war
gar zu freundlich, gar zu liebreich. Wenn ich an ihn
denke, ist mir gar nicht, als dächte ich an meinen Ge¬
bieter, sondern wie ein älterer Bruder steht er mir vor
der Seele."

"Nun, mein Lieber," antwortete ihm Odysseus,
"weil dein ungläubiges Herz so zuversichtlich seine Rück¬
kehr läugnet, so sage ich dir mit einem Eidschwur:
Odysseus kommt. Meinen Lohn, den Mantel und Leib¬
rock verlange ich erst, wenn er da ist; denn so entblößt ich
bin, mit einer Fabel möchte ich mir nichts verdienen, ich
hasse die Lügner bis auf den Tod. So höre denn, was
ich dir bei Jupiter, bei diesem deinem gastlichen Tische,
und bei dem Heerde des Odysseus schwöre: wann dieser
Monat abgelaufen ist, wird er eintreten in sein Haus
und die Frechen züchtigen, die es wagen, sein Weib
und seinen Sohn zu beschweren." "O Greis," erwiderte
Eumäus, "ich werde dir so wenig den Lohn für deine
Botschaft zu entrichten haben, als Odysseus nach Hause
zurückkehrt. Fasle nicht, trinke ruhig deinen Wein, und
sprich von etwas Anderem. Deinen Eid laß gut seyn!
Von Odysseus hoffe ich nichts mehr; mir macht jetzt
nur sein Sohn Telemach Sorge; in ihm hoffte ich einst
an Leib und Seele den Vater wieder zu schauen. Aber
ein Gott oder Mensch hat ihm den Sinn bethört: er
ist gen Pylos gefahren, um nach dem Vater zu forschen;
unterdessen legten sich die Freier zu Schiff in einen Hin¬
terhalt, und werden mit ihm den letzten Sprößling vom
uralten Stamme des Akrisius vertilgen. Doch, erzähle
du, Greis, mir jetzt dein eigenes Leiden, wer bist du,
und was brachte dich nach Ithaka?"

nimmermehr bekomme ich einen ſo gütigen Herrn, er war
gar zu freundlich, gar zu liebreich. Wenn ich an ihn
denke, iſt mir gar nicht, als dächte ich an meinen Ge¬
bieter, ſondern wie ein älterer Bruder ſteht er mir vor
der Seele.“

„Nun, mein Lieber,“ antwortete ihm Odyſſeus,
„weil dein ungläubiges Herz ſo zuverſichtlich ſeine Rück¬
kehr läugnet, ſo ſage ich dir mit einem Eidſchwur:
Odyſſeus kommt. Meinen Lohn, den Mantel und Leib¬
rock verlange ich erſt, wenn er da iſt; denn ſo entblößt ich
bin, mit einer Fabel möchte ich mir nichts verdienen, ich
haſſe die Lügner bis auf den Tod. So höre denn, was
ich dir bei Jupiter, bei dieſem deinem gaſtlichen Tiſche,
und bei dem Heerde des Odyſſeus ſchwöre: wann dieſer
Monat abgelaufen iſt, wird er eintreten in ſein Haus
und die Frechen züchtigen, die es wagen, ſein Weib
und ſeinen Sohn zu beſchweren.“ „O Greis,“ erwiderte
Eumäus, „ich werde dir ſo wenig den Lohn für deine
Botſchaft zu entrichten haben, als Odyſſeus nach Hauſe
zurückkehrt. Fasle nicht, trinke ruhig deinen Wein, und
ſprich von etwas Anderem. Deinen Eid laß gut ſeyn!
Von Odyſſeus hoffe ich nichts mehr; mir macht jetzt
nur ſein Sohn Telemach Sorge; in ihm hoffte ich einſt
an Leib und Seele den Vater wieder zu ſchauen. Aber
ein Gott oder Menſch hat ihm den Sinn bethört: er
iſt gen Pylos gefahren, um nach dem Vater zu forſchen;
unterdeſſen legten ſich die Freier zu Schiff in einen Hin¬
terhalt, und werden mit ihm den letzten Sprößling vom
uralten Stamme des Akriſius vertilgen. Doch, erzähle
du, Greis, mir jetzt dein eigenes Leiden, wer biſt du,
und was brachte dich nach Ithaka?“

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[186/0208] nimmermehr bekomme ich einen ſo gütigen Herrn, er war gar zu freundlich, gar zu liebreich. Wenn ich an ihn denke, iſt mir gar nicht, als dächte ich an meinen Ge¬ bieter, ſondern wie ein älterer Bruder ſteht er mir vor der Seele.“ „Nun, mein Lieber,“ antwortete ihm Odyſſeus, „weil dein ungläubiges Herz ſo zuverſichtlich ſeine Rück¬ kehr läugnet, ſo ſage ich dir mit einem Eidſchwur: Odyſſeus kommt. Meinen Lohn, den Mantel und Leib¬ rock verlange ich erſt, wenn er da iſt; denn ſo entblößt ich bin, mit einer Fabel möchte ich mir nichts verdienen, ich haſſe die Lügner bis auf den Tod. So höre denn, was ich dir bei Jupiter, bei dieſem deinem gaſtlichen Tiſche, und bei dem Heerde des Odyſſeus ſchwöre: wann dieſer Monat abgelaufen iſt, wird er eintreten in ſein Haus und die Frechen züchtigen, die es wagen, ſein Weib und ſeinen Sohn zu beſchweren.“ „O Greis,“ erwiderte Eumäus, „ich werde dir ſo wenig den Lohn für deine Botſchaft zu entrichten haben, als Odyſſeus nach Hauſe zurückkehrt. Fasle nicht, trinke ruhig deinen Wein, und ſprich von etwas Anderem. Deinen Eid laß gut ſeyn! Von Odyſſeus hoffe ich nichts mehr; mir macht jetzt nur ſein Sohn Telemach Sorge; in ihm hoffte ich einſt an Leib und Seele den Vater wieder zu ſchauen. Aber ein Gott oder Menſch hat ihm den Sinn bethört: er iſt gen Pylos gefahren, um nach dem Vater zu forſchen; unterdeſſen legten ſich die Freier zu Schiff in einen Hin¬ terhalt, und werden mit ihm den letzten Sprößling vom uralten Stamme des Akriſius vertilgen. Doch, erzähle du, Greis, mir jetzt dein eigenes Leiden, wer biſt du, und was brachte dich nach Ithaka?“

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/208>, abgerufen am 04.05.2024.