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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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silbernen Krug zu tragen, und aus dem Kasten suchte
Helena das unterste ihrer selbstgewirkten Gewande her¬
vor, welches das schönste und größte von allen war.
Mit diesen Gaben kehrten sie zu dem Gastfreunde zurück;
Menelaus reichte ihm den Becher, sein Sohn stellte den
Krug vor ihm auf, und Helena ging mit ihrem Gewand
in den Händen ihm entgegen und sprach: "Nimm dieses
Geschenk, lieber Sohn, als ein Andenken aus der Hand
Helena's: am Hochzeittage soll es deine junge Braut
tragen; bis dahin mag es im Gemache deiner Mutter
liegen. Du aber kehre mit fröhlichem Herzen in das
Haus deiner Väter zurück."

Telemach empfing die Gaben mit ehrerbietigem Danke,
und sein Freund Pisistratus legte sie, jedes Einzelne be¬
wundernd, im Wagenkorbe nieder. Dann führte Mene¬
laus die Gäste noch einmal in seinen Saal, und der
Abschiedsimbiß wurde genossen. Als sie schon auf dem
Wagen saßen, trat Menelaus, mit einem vollen Becher
in der Rechten, noch einmal vor die Rosse, brachte zu
glücklicher Abfahrt den Unsterblichen eine Opferspende
dar, trank mit einem Handschlage den Jünglingen zu,
sagte ihnen Lebewohl, und gab ihnen einen Gruß an
seinen greisen Freund Nestor auf. Während Telemach
noch dankte und seinen Wunsch aussprach, den Vater
Odysseus im Palaste heimgekehrt zu treffen, und ihm von
des Menelaus Gastfreundschaft Bericht abstatten zu kön¬
nen: siehe da flog ein Adler, mit einer zahmen Gans
aus dem Hofe in den Klauen, von schreienden Männern
und Weibern verfolgt, rechts her gerade vor die Rosse
der Jünglinge. Alle freuten sich über dieses Zeichen,
Helena aber sprach: "Höret meine Weissagung, ihr Freunde!

ſilbernen Krug zu tragen, und aus dem Kaſten ſuchte
Helena das unterſte ihrer ſelbſtgewirkten Gewande her¬
vor, welches das ſchönſte und größte von allen war.
Mit dieſen Gaben kehrten ſie zu dem Gaſtfreunde zurück;
Menelaus reichte ihm den Becher, ſein Sohn ſtellte den
Krug vor ihm auf, und Helena ging mit ihrem Gewand
in den Händen ihm entgegen und ſprach: „Nimm dieſes
Geſchenk, lieber Sohn, als ein Andenken aus der Hand
Helena's: am Hochzeittage ſoll es deine junge Braut
tragen; bis dahin mag es im Gemache deiner Mutter
liegen. Du aber kehre mit fröhlichem Herzen in das
Haus deiner Väter zurück.“

Telemach empfing die Gaben mit ehrerbietigem Danke,
und ſein Freund Piſiſtratus legte ſie, jedes Einzelne be¬
wundernd, im Wagenkorbe nieder. Dann führte Mene¬
laus die Gäſte noch einmal in ſeinen Saal, und der
Abſchiedsimbiß wurde genoſſen. Als ſie ſchon auf dem
Wagen ſaßen, trat Menelaus, mit einem vollen Becher
in der Rechten, noch einmal vor die Roſſe, brachte zu
glücklicher Abfahrt den Unſterblichen eine Opferſpende
dar, trank mit einem Handſchlage den Jünglingen zu,
ſagte ihnen Lebewohl, und gab ihnen einen Gruß an
ſeinen greiſen Freund Neſtor auf. Während Telemach
noch dankte und ſeinen Wunſch ausſprach, den Vater
Odyſſeus im Palaſte heimgekehrt zu treffen, und ihm von
des Menelaus Gaſtfreundſchaft Bericht abſtatten zu kön¬
nen: ſiehe da flog ein Adler, mit einer zahmen Gans
aus dem Hofe in den Klauen, von ſchreienden Männern
und Weibern verfolgt, rechts her gerade vor die Roſſe
der Jünglinge. Alle freuten ſich über dieſes Zeichen,
Helena aber ſprach: „Höret meine Weiſſagung, ihr Freunde!

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[194/0216] ſilbernen Krug zu tragen, und aus dem Kaſten ſuchte Helena das unterſte ihrer ſelbſtgewirkten Gewande her¬ vor, welches das ſchönſte und größte von allen war. Mit dieſen Gaben kehrten ſie zu dem Gaſtfreunde zurück; Menelaus reichte ihm den Becher, ſein Sohn ſtellte den Krug vor ihm auf, und Helena ging mit ihrem Gewand in den Händen ihm entgegen und ſprach: „Nimm dieſes Geſchenk, lieber Sohn, als ein Andenken aus der Hand Helena's: am Hochzeittage ſoll es deine junge Braut tragen; bis dahin mag es im Gemache deiner Mutter liegen. Du aber kehre mit fröhlichem Herzen in das Haus deiner Väter zurück.“ Telemach empfing die Gaben mit ehrerbietigem Danke, und ſein Freund Piſiſtratus legte ſie, jedes Einzelne be¬ wundernd, im Wagenkorbe nieder. Dann führte Mene¬ laus die Gäſte noch einmal in ſeinen Saal, und der Abſchiedsimbiß wurde genoſſen. Als ſie ſchon auf dem Wagen ſaßen, trat Menelaus, mit einem vollen Becher in der Rechten, noch einmal vor die Roſſe, brachte zu glücklicher Abfahrt den Unſterblichen eine Opferſpende dar, trank mit einem Handſchlage den Jünglingen zu, ſagte ihnen Lebewohl, und gab ihnen einen Gruß an ſeinen greiſen Freund Neſtor auf. Während Telemach noch dankte und ſeinen Wunſch ausſprach, den Vater Odyſſeus im Palaſte heimgekehrt zu treffen, und ihm von des Menelaus Gaſtfreundſchaft Bericht abſtatten zu kön¬ nen: ſiehe da flog ein Adler, mit einer zahmen Gans aus dem Hofe in den Klauen, von ſchreienden Männern und Weibern verfolgt, rechts her gerade vor die Roſſe der Jünglinge. Alle freuten ſich über dieſes Zeichen, Helena aber ſprach: „Höret meine Weiſſagung, ihr Freunde!

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/216>, abgerufen am 24.11.2024.